Ein Sehnen Im Herzen
die Gräfinwitwe Lady Denham und breitete beide Arme aus. »Oh, meine Liebe!«
Und gleich darauf fand sich Emma in einer Umarmung wieder, die so stürmisch war, dass sie ihr beinahe das Rückgrat brach. Die Gräfinwitwe war in ihren Begrüßungen mehr als überschwänglich.
In dieser, wie auch in anderer Hinsicht hatte sie keine Ähnlichkeit mit ihrem Sohn. Behäbig und von durchschnittlichem Aussehen, aber mit einem feinen Gespür für Mode und großem Interesse an Schönheit und Kunst, galt Lady Denham als eine der beliebtesten Gastgeberinnen Londons, nicht nur wegen der ausgezeichneten Tafel, die sie ihren Gästen bot, sondern auch wegen ihrer unerschütterlich guten Laune und Warmherzigkeit.
Emma bekam eine Kostprobe ihres gütigen Naturells zu spüren, als die lebhafte Dame sie endlich aus ihren Armen entließ und sie von oben bis unten begutachtete.
»Sie ist zu dünn«, verkündete James' Mutter, und beäugte Emma in ihrem schlichten karierten Kleid und der dazu passenden Haube - beides seit einem Jahr aus der Mode - kritisch. »Findest du nicht, James? Was hat man dir dort oben zu essen gegeben, Emma? Luft? Du bestehst ja nur noch aus Haut und Knochen. Na, macht nichts. Unsere Köchin wird dich schnell wieder aufpäppeln. Warte, bis du ihr... meine Güte, wer ist denn das?« Lady Denham brach ab, als ihr Blick auf den schmächtigen Jungen fiel, der halb von Emmas weiten Röcken verborgen wurde.
Fergus, der schüchtern hinter Emmas Röcken hervorlugte, drehte seine Kappe in den Händen. »Fergus MacPherson, Ma'am.«
Die Gräfinwitwe, die anscheinend nichts dabei fand, dass ihr Sohn nicht nur die Witwe seines Cousins, sondern auch ein halbblindes Gassenkind aus Schottland mitgebracht hatte, streckte eine mollige Hand aus. »Sehr erfreut, Mr. MacPherson.«
Fergus wirkte zwar erleichtert, versteckte sich aber trotzdem hinter Emma. Nicht etwa, dass der Junge scheu gewesen wäre, wie Emma sehr wohl wusste. Fergus hatte weiß Gott in seinem ganzen Leben noch nie so etwas wie Verlegenheit empfunden. Die Pracht des Hauses in der Park Lane mit den hohen Decken, livrierten Lakaien, glänzenden Marmorböden und kunstvoll gerahmten Gemälden wirkte einfach ein wenig überwältigend auf ihn. Verglichen mit dem Strohdachhäuschen, in dem der Junge in Faires lebte, erschien das Haus, das James mit seiner Mutter bewohnte, wie ein Palast. Selbst Emma, die das Stadthaus von früher gut kannte, fühlte sich leicht eingeschüchtert. Es ist lange her, stellte sie fest, seit ich in einem Gebäude gewesen bin, in dem es tatsächlich warm ist und die Fensterscheiben sauber genug sind, dass man hinausschauen kann.
Nein, Emma machte Fergus keine Vorwürfe. Sie wünschte inständig, sie könnte ihr Gesicht auch verbergen... wenn auch nicht unbedingt aus demselben Grund. Schon seit einigen Tagen - genau genommen seit dem Moment, als sie in Mrs. MacTavishs Gasthaus aufgewacht und sich bewusst geworden war, was sie getan hatte - wünschte sie, sie hätte sich an diesem Morgen einfach die Decke über den Kopf ziehen und für immer dort lassen können.
Sie hatte mit ihrem Ehemann geschlafen. Das mochte in den Annalen der Geschichte nicht als schwere Sünde wiegen, aber für sie war es durch und durch verworfen. Denn James war nicht wirklich ihr Mann. Nun ja, vor dem Gesetz war er es, nahm sie an, aber ihre Verbindung hatte rein nomineller Natur sein sollen. Was war in jener Nacht im Gasthaus bloß geschehen? Sie konnte es sich nicht erklären.
Und sie konnte nicht gut eine Erklärung von James fordern. Es war ihr seit jener verhängnisvollen Nacht nicht gelungen, mehr als ein paar Sekunden mit ihm allein zu sein. Als sie am nächsten Morgen aus dem unruhigen Schlaf erwachte, der ihrem leidenschaftlichen Liebesakt gefolgt war, war sie allein gewesen. Und allein geblieben, bis sie nach unten in Mrs. MacTavishs Speisesaal ging und dort ihren Ehemann - Ehemann! - in Gesellschaft von keinem anderen als Fergus MacPherson antraf...
... der, wie James ihr lächelnd und ohne die leiseste Anspielung auf die stürmische Nacht, die hinter ihnen lag, mitteilte, sie nach London begleiten würde, um von einem Arzt, einem bekannten Spezialisten für Augenleiden, mit dem James zufällig bekannt war, untersucht zu werden.
Es hatte Emma natürlich überrascht, das zu hören, aber nicht so sehr, wie sie erwartet hätte. Das hier war eindeutig nicht mehr der James Marbury, der in den Salon seiner Mutter gestürmt war und seinen Cousin zu Boden
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