Ein sehr privater Verführer (Baccara) (German Edition)
Ordnung.
Eine halbe Stunde lang blätterte sie unentschlossen in mehreren Bänden, aber sie konnte sich nicht auf das Geschriebene konzentrieren. Selbstvergessen öffnete sie einen der niedrigen Einbauschränke, fand darin aber nichts Bemerkenswertes. Nur alte Zeitschriften, Briefpapier und Kuverts, dazu ein paar Eintrittskarten für Baseballspiele.
Im nächsten Schrank wurde sie allerdings fündig. Sie entdeckte jene Fotografien, nach denen sie unbewusst gesucht hatte. Wertvolle, ledergebundene Alben, geprägt mit goldenen Jahreszahlen, alle aus den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts.
Obwohl ihr klar war, dass sie etwas Verbotenes tat, siegte ihre Neugier. Sie zog ihre Schuhe aus, ließ sich mit drei der Alben auf dem Sofa nieder, wickelte sich in eine Decke und begann zu blättern. Bald schon wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Irgendjemand hatte jedes kleinste Detail der Tragödie, welche die Familie Wolff ereilt hatte, dokumentiert.
Die Zeitungsausschnitte reichten von der New York Times bis zu den grellsten Boulevardblättern. Manche Artikel waren seriös geschrieben, viele aber ergingen sich in wilden Spekulationen. Ein Foto berührte Gracie besonders stark. Es zeigte zwei erwachsene Männer, etwa gleich groß und vom gleichen Habitus, und zwischen ihnen stand ein kleiner Junge. Das Bild war sehr körnig und vermutlich mit einem Teleobjektiv aufgenommen. Denn wie anders war zu erklären, dass die Presse bei der Beerdigung von Gareths Mutter dabei gewesen war?
Die Schlagzeile lautete: „Die Finanzmagnaten Victor und Vincent Wolff trauern um ihre Ehefrauen, gemeinsam mit dem sieben Jahre alten Sohn und Neffen, Gareth Wolff.“
Tränen rollten über Gracies Wangen. Wie entsetzlich. Wie tragisch. Trotzdem las sie weiter.
Bei einer spektakulären Geiselnahme, die in ihrer Brutalität selbst Polizei und Staatsanwaltschaft hilflos wirken ließ, wurden die Ehefrauen der Multimillionäre Victor und Vincent Wolff am helllichten Tag bei einer Einkaufstour in Charlottesville, Virginia, gekidnappt. Drei Tage lang meldeten sich die Entführer nicht zu Wort, dann kam eine Geldforderung. Doch obwohl die Wolffs die Summe – vermutlich drei Millionen Dollar – sofort übergaben, wurden die Frauen mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet. Ihre Körper fand man wenig später in einem leer stehenden Kaufhaus in der Nähe von Washington. Wer Informationen liefern kann, die zur Ergreifung der Täter führen, erhält eine hohe Belohnung.
Zitternd saß Gracie auf dem Sofa und verwünschte ihre Neugier. Doch dann fragte sie sich, wer diese Alben wohl angelegt haben mochte. Wer wollte diese furchtbaren Erinnerungen noch nach so langer Zeit bewahren?
Ein paar Artikel berichteten davon, dass die Wolffs nach der Tragödie ihre Villen verkauft hatten, um sich in den Bergen einzuigeln. Ihre Kinder wuchsen mit Privatlehrern auf und hatten kaum Außenkontakte.
Kein Wunder, dass Gareth so heftig reagiert hatte, als Gracie auf seinem Grund und Boden aufgetaucht war.
Aufgeschlagen legte sie das Album zur Seite und dachte nach. Das Kaminfeuer prasselte, aber die Wärme drang nicht bis zu ihr. Ob sie wohl eine Mutter hatte? Irgendwie fühlte es sich nicht so an. Als sie noch einmal einen kurzen Blick auf das Foto mit dem kleinen Gareth warf, flackerte sekundenlang das Bild einer anderen Beerdigung vor ihr auf. Da stand ein Mann, an seiner Hand ein kleines Mädchen. War sie das? Gab es etwa eine Gemeinsamkeit zwischen ihr und Gareth?
Gleich darauf war in ihrem Kopf alles wieder leer. Regen trommelte gegen die Fensterscheiben und verstärkte ihre Nervosität. Wo in aller Welt war Gareth abgeblieben?
Gareth sprang aus dem Jeep und rannte zum Haus. Dort schüttelte er sich, ehe er eintrat. Er war nass bis auf die Haut und hatte keine Ahnung, wie er Gracie begegnen sollte, nach allem, was letzte Nacht geschehen war.
Im Bad zog er seine nassen Klamotten aus, und als er wieder trocken war, wählte er ein weiches Flanellhemd und dazu alte Jeans. Er musste sich um die Einzelheiten seines Trips nach Washington kümmern, aber zuerst wollte er nach Gracie schauen. Wenn er ehrlich war, freute er sich darauf, sie zu sehen. Und nicht nur das. Allein der Gedanke an sie erregte ihn.
Dennoch war es vermutlich besser, sie nicht mit nach Washington zu nehmen. Um die Sache nicht noch komplizierter zu machen. Jacobs Warnung hallte in seinem Kopf wider. Was sollte er tun?
Wenig später fand er Gracie aufs Sofa gekuschelt vor dem
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