Ein seltsamer Ort zum Sterben
diesem Ort gibt es keine Geschichte. Kein Gewicht. Kein Echo, kein Geraune von Tragik liegt in der leichten Brise. Schon komisch ist das. Denn wenn Kadri Oslo verlässt und Kollegen in anderen Städten trifft, um über Politik zu reden, Karten zu spielen, Drogen zu kaufen oder zu verkaufen und so, dann spürt er, wie sich ihm die Weite Skandinaviens offenbart – der endlose Himmel, die Leere des Landes. Es ist, als könnten die paar einsamen Menschen niemals diesen weiten Raum füllen. Er verhöhnt sie, konfrontiert sie mit ihrer eigenen Winzigkeit.
Sie sollten singen, wie auf dem Balkan. Und tanzen. Doch irgendetwas in ihnen hindert sie hier daran, die wenigen Worte zu sagen, die sie befreien, miteinander verbinden, sie mit sich selbst und dem Himmel aussöhnen könnten. Sie sollten das Leben einfach leben. Und den Tod auslachen.
Aber sie tun es nicht. Ihr protestantischer Deckmantel erstickt sie und raubt ihnen die Stimme.
Was auch immer der Auslöser dafür ist – die Geschichte ist es nicht. Hier gibt es keine nennenswerte Geschichte. Ein paar alte Boote und eine hölzerne Kirche – das hat nichts mit Geschichte zu tun. Dies hier ist ein Europa ohne Vergangenheit. Keine Römer. Keine Christen. Keine Kreuzzüge. Keine Religionskriege. Nur alte Götter und Trolle und blonde Recken mit Pelzbesatz. Was zum Teufel ist daran nur so deprimierend?
Wie ich doch unsere traurigen Lieder vermisse, die wir gemeinsam vor Freude gesungen haben!
Doch jetzt ist nicht die Zeit für Trauer. Oder Freude. Jetzt ist Zeit für einen Kaffee.
Kadri wippt ungeduldig auf den Zehenspitzen auf und ab, während das Mädchen – eine junge Schwedin, die wegen der höheren Löhne den Sommer über hier ist – vorsichtig die Milch in seinen Latte macchiato gießt, bis sich das florale Emblem des Cafés im Schaum abzeichnet.
Kadri knallt seine vierzig Kronen auf den Tisch und starrt dann auf den Kaffee.
Nach einer Weile schaut das Mädchen auch darauf.
Kadri sieht sie an und fragt: «Warum hast du eine Vagina in meinen Kaffee gezeichnet?»
«Bitte?»
«Vagina. In meinen Kaffee. In den Schaum.»
«Das ist ein Blatt.»
«Ein Blatt?»
«Genau. Ein Blatt.»
«Hast du schon mal ein Blatt gesehen, das so aussieht?»
Beide starren wieder auf die Zeichnung im Kaffeeschaum.
«Es ist mein erster Tag heute», sagt sie.
«Du hast versucht, ein Blatt zu zeichnen?»
«Ja.»
«Dann ist es ein Blatt.»
«Danke.»
«Behalte den Rest.»
Ein Paar in mittlerem Alter, das einen lindgrünen Kinderwagen bei sich hat, steht auf und verlässt einen der schmiedeeisernen Bistrotische, auf den Kadri sofort zustürzt. Er stößt ein glucksendes Lachen aus, als er auf dem Sitz hin und her rutscht.
Ach, das Leben. So viele Drehungen und Wendungen. So viel Unerwartetes, so viel Unabwendbares. Wir tun unser Bestes, um unsere Balance zu finden. Und um ruhig zu bleiben, flüchten wir uns in die kleinen Annehmlichkeiten des Alltags. Wie Kaffee und eine gute Zigarette.
Kadri zückt sein iPhone und tippt darauf herum, wartet, dass Envers Telefon klingelt.
Es klingelt ein paarmal öfter, als er erwartet hat. Verdammt, bei Enver weiß man wirklich nie, was er gerade tut. Außerdem erfüllt Kadri ja nur seine Pflicht, er spielt den braven, ehrerbietigen Soldaten. Aber er wird nicht so weit gehen und irgendetwas von all dem zu seinem eigenen Problem machen. Es ist nicht sein Junge. Kadri hat niemanden umgebracht. Zumindest nicht in Norwegen. Je früher das alles vorbei ist, umso besser. Schaltet Zezake ein, wenn es nötig ist. Kadri hat das Kästchen. Das reicht fürs Erste.
Endlich geht Enver ran. Er ist kurz angebunden und humorlos wie immer.
Sie sprechen Albanisch.
«Also, ich habe das Kästchen mit dem Zeugs drin.»
«Gab es irgendwelche Probleme?»
«Ich habe einer Polizistin eins übergebraten, aber sie ist nur bewusstlos, und das Kästchen und ich sind jetzt hier. So, jetzt weißt du alles.»
Enver sagt eine Weile lang gar nichts. Das tut er, wenn er nachdenkt. Kadri zuckt dann immer innerlich zusammen. Wenn du eh schon eine Meinung hast, dann sprich sie doch auch aus!
«So etwas nehmen sie hier sehr ernst.»
«Schau, Enver. Ist doch egal, oder? Ich war hinter ihr. Peng. Sie weiß nichts. Darf ich die Schatulle öffnen? Ganz schön hässlich, das Ding. Ich würd sie gern loswerden.»
«Nein.»
«Nein? Nein was? Nein, ich darf sie nicht öffnen, oder nein, sie ist nicht hässlich? Weil, glaub mir, sie ist hässlich. Ganz pink und mit so
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