Ein silbernes Hufeisen
Vielleicht sollte er sich in ihren ersten Stunden hinter sie auf Napoléons breiten Rücken setzen und den Arm fest um sie legen, damit sie von ihm die korrekte Haltung lernte? Dann wäre Tony ihr außerdem auch ganz nah und er könnte herausfinden, wie ihr leuchtendes Haar und ihr weißer Hals rochen. Um Himmels Willen, dachte er plötzlich und dann verstand er. Aber konnte dies denn überhaupt sein? Hatte er sich wirklich innerhalb weniger Minuten in Guinievaire Hastings verliebt, ausgerechnet in Guinievaire Hastings?
Diese neigte derweil verwirrt den Kopf von der einen auf die andere Seite. Er gefiel ihr, bemerkte sie wieder, seltsamerweise. Die eine Frage, die sie sich deswegen stellte, war einzig: Warum?
Tony war bereits letzte Nacht zurückgekehrt, denn plötzlich hatte er es sehr eilig gehabt, London endlich wiederzusehen. Selbst wenn er der Stadt üblicherweise nicht sonderlich zugetan war, es ließ sich nicht leugnen, dass es keinen besseren Ort geben konnte, um über einen Verlust hinweg zu kommen: in einer Großstadt wie London gab es schlicht nichts, was es nicht gab, und nichts, was man nicht zumindest sofort bekommen konnte, eine Millionen Ablenkungen sozusagen vom eigenen Kummer. Zudem hatte er es keine Sekunde länger ausgehalten in Bath, einfach weil er diesen Ort nach seinem langen Aufenthalt zugleich verabscheute und sich mit ihm verbunden fühlte. In Bath ruhten nicht mehr nur die Gebeine seiner toten Mutter, sondern nun auch sein Vater. Immer wieder hatte Tony in seinen letzten Tagen dort das Gefühl gehabt, er würde sie im Stich lassen, wenn er wieder abreiste, wo ihm doch ebenso sehr klar war, dass nichts mehr von ihnen übrig war. Wäre er noch länger geblieben, so hätte er die Stadt vermutlich nicht mehr verlassen. Dabei musste er doch zurückkehren in sein altes Leben, denn nachdem sein Vater nicht mehr da war, um sich um alles zu kümmern, lag es nun allein an Tony, sein Lebenswerk in London fortzuführen. Ein halbes Jahr war er fort gewesen, ein halbes Jahr hatten er und sein Vater gegen eine Krankheit gekämpft, die niemand wirklich verstanden und die am Ende doch gesiegt hatte und deswegen war es nun höchste Zeit, dass der letzte verbliebene Ford sich dem widmete, was seine Familie ausmachte. Die Zucht war das, was ihm noch blieb von seinem Vater, zusammen mit einigen finsteren Erinnerungen und dem kurzen Brief, den er ihm geschickt hatte und in dem er ihn angefleht hatte, zu kommen, um ihm zur Seite zu stehen.
Tony war wirklich überrascht gewesen, wie gut es ihm tat, sich wieder in seinen eigenen vier Wänden aufzuhalten. Das erste Mal seit sehr langer Zeit hatte er beinahe ruhig geschlafen und er fühlte sich, obwohl viel Arbeit vor ihm lag, als habe man ein schweres Gewicht endlich wieder von seinen Schultern genommen. Am Morgen nach seiner Rückkehr nahm er sich zunächst einmal Zeit für ein langes Frühstück, während dessen er die riesigen Mengen an Briefen, die sein Vater und er in den letzten Monaten erhalten hatten, durchsehen wollte. Immerhin hatte Tony seiner Haushälterin strikt untersagt, irgendwelche Schreiben nach Bath weiterzuleiten, wo ihn schon Sorgen zu genüge geplagt hatten. Danach standen ihm Termine über Termine bevor: er musste zur Zucht und nach dem Rechten sehen, er musste mit den Anwälten und den Nachlassverwaltern sprechen, es galt Kunden und Lieferanten zu betreuen und Pläne zu machen. Und dennoch, es musste ein wenig Zeit sein, Zeit für eine große, warme Tasse Tee und ein wenig feste Nahrung. Hungrig wie schon seit Langem nicht mehr biss Tony in einen Apfel und zog die gestapelten Umschläge an sich heran.
Draußen war es hell und mild und der Sommer in London schien genauso angenehm zu verlaufen wie der in Bath. Was für ein Jammer, dass Tony so viel Arbeit vor sich hatte, dachte er betrübt. Er wäre gerne ein wenig ausgeritten, hätte das Wetter genossen und hätte die Orte in der Stadt besucht, an denen ihm tatsächlich etwas gelegen war. Nun, diese unbeschwerten Tage waren vorbei. Tony war nun sein eigener Herr und er war plötzlich Geschäftsmann. Scheinbar tausende Briefe hatte er erhalten und keiner davon interessierte ihn wirklich: manche waren Beileidsbekundungen, die ihm gut taten, die aber im Moment irrelevant waren. Bei den meisten drehte es sich um das Gestüt, Kaufanfragen, Probleme, Rechnungen, Verwirrung und mehr Dinge, die er zu bezahlen hatte. Schon sehr bald war Tony es leid, einen Umschlag nach dem anderen aufzureißen.
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