Ein silbernes Hufeisen
Erschöpft blätterte er deswegen durch den Stapel und versuchte, schon an der Handschrift des Verfassers oder am Aussehen des Schriftstückes zu erkennen, welcher Inhalt ihn erwartete. Ungefähr in der Mitte des zweiten Stapels fiel ihm dabei endlich ein Brief ins Auge: er war zerknittert und gelblich und machte den Eindruck, als habe er einen weiten Weg hinter sich. Tonys Adresse war in einer kaum leserlichen, krummen und winzigen Handschrift in eine Ecke gedrängt worden und mit blauer Tinte geschrieben. Beinahe blieb ihm das müde Herz stehen. Er kannte diese Handschrift und er erriet sofort, von wem dieser Brief sein musste.
Guinievaire hatte ihm tatsächlich geschrieben, aus Italien, und sie hatte ihm geschrieben, dass ihre Flucht aus dem Turm ihrer Tante nichts weiter gewesen war als ein gut inszenierter Trick. Sie hatte Alexander nicht geheiratet und sie hatte es auch niemals vorgehabt. Das Gegenteil war vielmehr der Fall – sie hatte auf Tony gewartet, weil sie ihn hatte heiraten wollen, weil sie ihn liebte. Und er hatte ihr nicht vertraut, er hatte diesen Brief niemals erhalten und er hatte sie in schrecklicher Ungewissheit warten lassen. Eilig warf er einen Blick auf das Datum und stellte dabei fest, dass er vom letzten November war, was bedeutete, er musste in Shropshire angekommen sein, kurz nachdem Tony abgereist war. Warum nur hatten Vicky oder Rob ihm den Brief nicht zukommen lassen? Vermutlich hatten sie jemand anderen damit beauftragt gehabt, sich um seine Post zu kümmern. Was für schreckliche Zufälle dies waren! Guinievaire hatte auf ihn gewartet, sie liebte ihn, und er war nicht gekommen, sie hatte ihm umsonst vertraut, und er hatte sie vollkommen zu Unrecht aufgegeben, was damit nun schon zum zweitem Mal geschehen war. Ob Marion wohl gewusst hatte, dass Guinievaire und Alexander ihre Verlobung nur vorgetäuscht hatten und Tony auch diese Information mit Absicht vorenthalten hatte? Dieser unglaubliche Brief! Tonys Herz raste. Dieser Brief war ein Desaster und zugleich war er eine unheimliche Erleichterung. Guinievaire liebte ihn doch. Sie hatte es getan, besser gesagt, und nun glaubte sie, er habe sie im Stich gelassen, so wie Tony geglaubt hatte, sie habe ihn im Stich gelassen.
Aber wo war Guinievaire jetzt in diesen Augenblicken? Wartete sie immer noch? Wenn sie wieder in London war, was war dann? Dann hatte sie mit Sicherheit bereits seinen ungehaltenen Brief bekommen, in dem er sie vollkommen zu Unrecht beschuldigte, ihn verlassen und enttäuscht zu haben. Vielleicht würde sie ihn niemals wieder sehen wollen. Aber er musste sie unbedingt sehen nach dem, was er soeben erfahren hatte. Und vielleicht – dieser Gedanke kam Tony plötzlich unvermittelt – hatte sie ihm ein zweites Mal geschrieben, um zu erfahren, wo er blieb und warum er nicht zu ihr kam. Mit zitternden Fingern durchsuchte er die übrigen Umschläge und nach kurzer Zeit fand er tatsächlich einen weiteren, der ihre Handschrift trug. Tony riss ihn unvorsichtig auf und überflog ihn eilig. Es war ein kurzer Brief:
Tony,
Sorge dich nicht, denn ich werde dich nicht in die peinliche Situation bringen und Antworten oder gar Erklärungen von dir verlangen, dafür, dass du niemals aufgetaucht bist und mich in der Wildnis einfach hast verkommen lassen, wie kein Ehrenmann es getan hätte. Ich bin großmütig und deshalb erwarte ich noch nicht einmal eine Antwort von dir, weil ich dir diesen Brief vielmehr aus purer Höflichkeit schreibe, denn wie du weißt, ich bin ein ausgesprochen wohlerzogenes Mädchen.
Tony, ich möchte dir an dieser Stelle und auf diesem Wege inständig danken, dass du all deine Versprechen mir gegenüber gebrochen hast. Nur weil du mich derart feige im Stich gelassen hast, geht es mir besser als jemals zuvor in meinem Leben, und bitte glaube mir, ich bin überglücklich mit deiner Entscheidung und deshalb will ich auch nicht, dass du dich schlecht fühlst oder dass dein Gewissen dich quält, weil du mich verlassen hast. Schon bald werde ich nach London zurückkehren, das Warten habe ich natürlich lange aufgegeben, und dann kannst du dich selbst von meinem hervorragenden Zustand überzeugen, falls du das möchtest oder falls du es überhaupt wagst, mir noch einmal unter die Augen zu treten. Falls nicht, dann ist dieser Brief wohl auch eine gut gemeinte Warnung an dich und gibt dir Zeit, die Stadt zu verlassen. Was auch immer du entscheidest, es spielt keine Rolle für mich. Ich kann
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