Ein silbernes Hufeisen
abzustatten. Er sollte noch nicht einmal mit ihr sprechen durch das klaffende, rechteckige Loch, welches er persönlich in die Türe gesägt hatte, um ihr morgens und abends Essen hindurch reichen zu können. Es wurde also viel Aufhebens gemacht, bedachte man, dass es sich bei dem Gast um ein junges Mädchen in Marions Alter handelte und nicht etwa um einen Schwerverbrecher.
Nun, ganz egal was man ihm sagte, Marion wollte sie sehen. Er hatte schon immer nach London gewollt und dass sie von diesem verderbten Ort stammte, war ganz einfach brennend interessant. Wie sie dort wohl lebte, reich geboren, im Grunde unnütz, aber bewundert von allen, Marion stellte es sich gerne vor und beneidete sie zugleich darum, um die Parties und die teure Kleidung, das exotische Essen und den Alkohol in Strömen. Ob es tatsächlich genauso fabelhaft war wie in seiner Phantasie? Deshalb musste er sie sehen und sie fragen, weil dieses Mädchen im Turm wie eine kleine Flucht war, heraus aus dem öden Shropshire.
Dennoch, zwei lange Monate vergingen bis Marion einen geeigneten Tag gefunden hatte, an dem er es tatsächlich wagte, das Schloss an ihrer Türe zu öffnen. Denn heute war die alte Abigail endlich ausgegangen und die meisten der Angestellten waren deshalb längst zu Hause und genossen ihren ausgedehnten Feierabend, nur für Marion und seine Mutter gab es wie immer noch viel zu tun.
„Vergiss die Büsche am Vordertor nicht. Sprich nicht mit ihr. Und sei pünktlich zum Abendessen daheim,“ wurde er strikt angewiesen.
Ein Tablett mit Wasser, Brot und kaltem Schweinefleisch, zusammen mit einigen, wenigen Scheiben Tomaten wurde ihm gereicht, wobei die alte Dame üblicherweise kaum einen derart simplen Geschmack hatte. Der Gefangenen ließ man jedoch stets nur sehr einfache Kost zukommen. Scheinbar waren ihre Tante und ihr unsichtbarer Vater der Meinung, sie habe nichts Besseres verdient.
Marion nickte lediglich abwesend auf die Befehle seiner Mutter hin, denn er hörte im Grunde nur selten zu, wenn sie sprach, was wiederum daran liegen mochte, dass sie ausgesprochen anstrengend war in ihren Verhaltensweisen und zuweilen – Marion hatte unglücklicherweise kein besseres Wort dafür – war sie sogar ein wenig verrückt, weswegen er durchaus ab und an verstehen kannte, warum sein Vater schon sehr bald geflohen war ohne den Sohn aufwachsen sehen zu wollen. Auch er hielt seit Jahren bereits vorsichtigen Abstand zu ihr, was sie meist nicht kümmerte und dann wurde sie wiederum panisch und wollte von jedem Schritt wissen, den er tat. Etwas stimmte ganz einfach nicht mit ihr, dies war leicht zu erkennen, daran wie sie ihn zuweilen ansah mit stumpfen Augen als sehe sie ihn gar nicht, als hinge ein unsichtbarer Schleier in ihrem Schädel, der alles fremd und bedrohlich für sie machte. Manchmal konnte sie deshalb fast ein wenig unheimlich sein.
„Hast du sie schon einmal gesehen?“ fragte er nun, während er aus dem Fenster sah. Der Schnee war noch immer nicht vollkommen geschmolzen, was ihm seine Arbeit ganz und gar nicht erleichterte. Missmutig zuckte ihm deshalb ein Mundwinkel.
„Nein, das habe ich nicht,“ entgegnete seine Mutter, die heute bemerkenswert aufmerksam schien, derweil räumte sie mit ihrem typisch plumpen Schritt die Utensilien auf, die sie zum Kochen benutzt hatte. Der Herrin hatte sie das Essen heute kalt gestellt, denn ab und an blieb die alte Frau merkwürdig lange aus, und dann wusste eigentlich niemand, wohin sie verschwand, und wenn Marion es recht bedachte, dann wollte er dies auch überhaupt nicht wissen. „Und das möchte ich auch nicht. Sie ist sicherlich ein grauenhaftes Mädchen, wo sie der ganzen Familie doch so viel Kummer bereitet.“
Sie war sicher ein fantastisches Mädchen, befand er absolut überzeugt. Marions Mutter gönnte sich gerne jenes Privileg ländlicher Arroganz und hielt alle Menschen aus der großen Stadt für hochmütige Ungeheuer, die faul waren und verweichlicht und eindeutig viel zu dekadent für ihr ewiges Seelenheil, und leider war dies eine Meinung – das hatte er schon oft feststellen müssen – die in seiner unerfreulichen Umgebung durchaus vorzuherrschen schien. Was dabei nur ein weiterer Beweis dafür war, dass Marion im Grunde nicht hierher gehörte.
„Denk an die Büsche!“ rief seine Mutter noch einmal, als er sich schließlich mit einem gezielten Tritt gegen die helle Türe auf den Weg machte zu der schrecklichen Nichte. Verflucht, die Büsche, dachte er dabei,
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