Ein sinnlicher Schuft
heftig den Kopf. »Sie war nich da, ist mit ’nem anderen Mann davongerannt.«
Evans schmales Gesicht verzog sich. »Noch ’n anderer? Is sie’s nich leid?« Er lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »Sie is wirklich nichts als ’ne verfluchte Hu…«
»Evan!« Sie warf ihm einen zornigen Blick zu und deutete mit einem Nicken in Richtung Melody. »Kleine Leute, große Ohren.«
»Is mir doch egal. Mit denen hab ich nix zu schaffen. Ein feiner Pinkel und sein verzogenes Gör, die hinter jemandem wie Chantal herrennen!«
Melody schaute neugierig von ihren Spielsachen auf. »Was ist ein Gör?«
Pru blickte ihren Bruder finster an. »Im Augenblick würde ich sagen, das ist jemand, der sich so schlecht benimmt wie Evan.«
Der Junge kniff die Augen zusammen. »Pass auf, was du sagst, Prudence. Klingst neuerdings selbst ganz schön fein.«
Sie holte tief Luft. Es wurde zunehmend schwieriger mit ihm. Sie war bloß seine Schwester, nicht seine Mutter, und Evan nutzte das inzwischen aus. Außerdem blieb ihm ihre eigene Hilflosigkeit nicht mehr so verborgen wie früher, und er verlor schnell den Glauben an alles, etwa an Werte wie Kultur und Religion. An Gerechtigkeit glaubte er sowieso schon lange nicht mehr, desgleichen nicht an Großmut und Wohltätigkeit. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass all das für Menschen wie sie und ihn nicht galt. Er konnte sich ja an nichts anderes erinnern, und auch bei ihr verblasste die Vergangenheit immer mehr.
Seufzend wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Arbeit zu. »Komm her, Melody. Lass uns mit Pommes Feder einen Hut für Gordy Anne machen.«
Melody kletterte auf ihren Schoß, eifrig wie immer, wenn es um ihre schmuddelige Lumpenpuppe ging. Evan verzog geringschätzig den Mund. »Warum kauft er ihr keine richtige Puppe? Leisten könnt er sich’s ja.«
Melody drückte das geknotete Halstuch in ihre Ärmchen und bedachte Evan mit einem so düsteren Blick, dass er verlegen wegschaute. »Will keine neue Puppe. Will nur Gordy Anne.«
Evan hob abwehrend beide Hände. »Schon gut!« Er schüttelte den Kopf. »Prinzessin Melody darf ihre hässliche alte Puppe behalten.«
»Ich bin keine Prinzessin«, stellte Melody richtig, während sie mit der Feder spielte. »Ich bin eine Dame. Lady Melody.«
»Bist du nich.«
»Bin ich doch. Onkel Colin hat es gesagt und Onkel Aidan. Und Lord Aldrich auch. Und Lady Blankenship. Und Billywick. Er nennt mich manchmal kleine Mylady.« Melody sah voller Ernst zu Pru hoch. »Das gefällt mir.« Dann wandte sie sich wieder ihrer Puppe zu und summte glücklich vor sich hin.
Die Feder wippte majestätisch in dem Knoten, der den Kopf darstellen sollte. Es sah ein bisschen so aus, als sei die Puppe von einem gefiederten Speer durchbohrt worden. »Sieht Gordy Anne nicht schön aus?«
»Sehr schön.« Pru strich ihr nachdenklich über die glänzenden Locken.
Kleine Mylady.
In Mr Lamberts Leben musste es ziemlich kompliziert zugehen, nach Melodys wirren Äußerungen zu schließen. Leider sah es ihm nicht ähnlich, sich einer Dienstmagd gegenüber zu erklären, wie sich das mit Melody und Lady oder Mylady verhielt.
Als Melody auf ihrem Schoß zunehmend schwerer wurde und schließlich einnickte, beschloss Pru, ebenfalls ein Schläfchen zu halten, denn sie fühlte sich rechtschaffen erschöpft. Einen Arm fest um den kleinen, runden Bauch gelegt, um das Kind gegen Schlaglöcher zu schützen, lehnte sie den Kopf gegen die Polster und machte die Augen zu. Gestern war sie nach der aufregenden Begegnung mit Mr Lambert erst spät zur Ruhe gekommen, und jetzt forderte die Natur ihr Recht.
Die Straße, die Kutsche, Evan, Melody, Mr Lambert, ja sogar Hector verwoben sich im Halbschlaf und taten und sagten die absurdesten Dinge.
Wie aus weiter Ferne drang in ihr Bewusstsein, dass Evan ihre Sachen durchsuchte, und sie wollte ihm das eigentlich verbieten und ihn vor allem ermahnen, Mr Lamberts Gepäck nur ja nicht anzurühren, doch sie schaffte es nicht, sich so weit aus den Schatten ihres Traumes zu lösen. Zum Glück wusste Evan ja genau, was er durfte und was nicht.
Eigentlich.
Vorne auf dem Kutschbock bedauerte Colin langsam seine Entscheidung, Chantal nachzujagen, ohne eine längere Pause eingelegt zu haben. Vor allem sein Hinterteil bedurfte dringend der Ruhe, denn der Kutschbock seines Leihgefährts war verdammt hart. Nicht zu vergleichen mit dem Luxus seiner leider ruinierten Equipage. Vielleicht sollte er sich einmal dieses Themas annehmen und eine
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