Ein sinnlicher Schuft
aneinandergekuschelt und zugehört. Die ganze Welt verschwand dann, weißt du noch? Da waren nur wir, unsere kleine Familie, umhüllt von Papas tiefer Stimme wie von einer Decke, sicher und warm. Unser Vater hatte eine wundervolle Stimme.«
Evans magere Schultern bebten. Er presste die Lippen aufeinander, damit sie nicht zitterten. »Ich vergesse es«, flüsterte er. »Die Hälfte der Zeit weiß ich nicht einmal, ob ich mich erinnere oder ob du es mir nur erzählst.«
Sie küsste seine schmutzige Wange. »Ich weiß, mein Liebling. Vielleicht reicht es ja auch, wenn ich für dich alles in meinem Gedächtnis speichere und es dir erzähle, damit du der Mann werden kannst, der zu werden Papa von dir gewollt hätte.«
Er schaute auf seine Faust hinab, die sich um den Ring ballte. »Er würde nicht wollen, dass ich stehle.«
Pru lächelte sanft. »Bestimmt nicht. Er würde dir sagen, du sollst an deiner Ehre festhalten und immer tun, was das Richtige ist.«
Verwirrung und Zorn rangen in ihm um die Vorherrschaft, sie sah es an seinen Augen. »Aber du hast hart gearbeitet, und Chantal hat dich betrogen. Das is auch nich richtig.«
Sie seufzte. »Nein, das ist es nicht. Chantal hat uns bestohlen. Nur, wenn wir im Gegenzug Mr Lambert bestehlen, dann sind wir nicht besser als Chantal.«
Er wich zurück. Offenbar gefiel ihm nicht, was er hörte. »Ich hasse Chantal!«
»Genau wie…« Nein, nicht schon wieder. Sie musste vorsichtig sein mit ihren Äußerungen ihm gegenüber. »Ich hasse niemanden. Ich will nur meinen ausstehenden Lohn und danach Chantal nie mehr wiedersehen.« Sie lächelte ihn zärtlich an. »Du hast ein gutes Herz, Evan. Was sagt es dir, das du tun sollst?«
Er schaute noch einmal auf seine Hände, bevor er sie ihr entgegenstreckte. »Nimm ihn«, flüsterte er. »Es tut mir leid, Pru.«
Erst als das wertvolle Schmuckstück warm und schwer und glänzend in ihre Hand fiel, ging ihr auf, was es bedeutete: Mr Lambert hatte vor, Chantal zu heiraten!
Achtzehntes Kapitel
A ls Pru langsam zur Kutsche zurückging, sah sie Melody auf Hectors Rücken sitzen, die kleinen Beine weit gespreizt und Gordy Anne vor sich, während Mr Lambert sich in die Kutsche beugte und Sachen nach draußen räumte.
Es sah ganz nach einer Suche aus. Pru verließ der Mut. Jede Hoffnung, den Ring einfach nur dorthin zurückstecken zu können, wo Evan ihn gefunden hatte, erstarb. Aber eigentlich war es egal, denn sie wollte ohnehin nicht lügen. Nicht nachdem sie sich all die Jahre ihre Redlichkeit bewahrt hatte. Sie atmete tief durch, die Finger fest um den Ring in ihrer Tasche geschlossen, und trat einen Schritt vor. »Mr Lambert, Sir…«
Er drehte sich nicht um. »Einen Augenblick bitte, Miss Filby.«
Sie ging noch näher an ihn heran und legte die Hand auf seinen Arm. »Sir, ich muss mit Ihnen sprechen.«
Bei ihrer Berührung erstarrte er kurz und blickte dann von seiner Suche auf. »Miss Filby, es tut mir leid, ich…«
Sie hob ihre zur Faust geschlossene Hand und öffnete sie vor seinen Augen.
»…habe etwas Wichtiges verloren.« Er verstummte, als er den Ring sah. »Oh.«
Er richtete sich auf, den Blick noch immer auf ihre Handfläche mit dem funkelnden Juwel gerichtet. »Wo haben Sie ihn gefunden?«
Pru schaute ihm ins Gesicht. Er versuchte ihr eine Brücke zu bauen, einen Ausweg zu bieten. Würde es akzeptieren, falls sie behauptete, er sei auf dem Boden der Kutsche herumgerollt oder habe in Melodys Schuh gelegen. Seine Güte machte es ihr einerseits schwerer, das Richtige zu tun, doch andererseits zugleich leichter.
Vielleicht, ja vielleicht konnte sie ihm vertrauen.
Ein wenig zittrig griff sie nach seiner Hand. Er ließ es zu, dass sie sie umdrehte, den Ring hineinlegte und seine Finger darum schloss. »Ich bitte um Verzeihung, Sir. Evan hat ihn genommen, während ich geschlafen habe.«
Endlich erwiderte er ihren Blick. Seine grünen Augen schauten irritiert, aber nicht verärgert. »Warum sollte er so etwas tun?«
Sie schluckte. Sie hatte es bislang vermieden, in seiner Gegenwart schlecht über Chantal zu reden, aber nun sah sie keine Möglichkeit mehr, ihm die Wahrheit zu verheimlichen, wenn sie nicht ihren kleinen Bruder als gemeinen Dieb erscheinen lassen wollte. »Miss Marchant hat Brighton verlassen, ohne mich zu bezahlen, Sir. Sie schuldet mir Geld für einige Wochen. Evan hatte Angst, wir würden sie nie mehr sehen, glaube ich.« Sie verstummte, wartete auf seine Reaktion.
Colin schaute sie
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