Ein sinnlicher Schuft
Aber wenn er an Liebe dachte, dann bestimmt an Chantal. Sie, Pru, stand einfach nur zur Verfügung.
Diese Tatsachen halfen ihr, sich zu einem Entschluss durchzuringen. Und dass er gerade nicht in der Nähe war, bestärkte sie in ihrer Entscheidung. Sie musste die Herrin ihres Handelns bleiben und sich auf keinen Fall beim Anblick dieses gut aussehenden Mannes gleich flach auf den Rücken werfen.
Als die Kutsche in die lange Auffahrt einbog, schob Pru Melodys schlaffen Körper auf die andere Schulter, damit sie aus dem Fenster spähen konnte. Sie sah ein herrschaftliches Haus in einem schön angelegten, indes wenig gepflegten Garten. Die Kutsche rollte auf den gekiesten Halbkreis vor dem Haus, und ein junger Mann in Livree eilte heraus, nahm Hectors Zügel und hielt ihn fest, während Mr Lambert vom Kutschbock sprang und den Wagenschlag öffnete.
»Miss Filby, es wäre mir sehr recht, wenn Sie mich begleiten würden. Evan, du kannst doch einen Moment auf Melody achtgeben, nicht wahr?«
Evan verdrehte die Augen, nickte aber. Neugierig kletterte Pru heraus. »Wofür brauchen Sie mich, Sir?«
Colin fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er zuckte unbehaglich die Schultern. »Es ist nicht so, dass ich Sie wirklich brauche…«
Sie kniff die Augen zusammen. »Sie haben sie lang nich gesehen, oder?«
»Äh, nein. Ein paar Jahre nicht.«
Pru stieß einen tiefen Seufzer aus. »Tja, ich hab selbst ein paar Takte mit ihr zu reden, deshalb geh ich gern mit Ihnen rein.«
Colin war nur froh, obwohl er nicht wusste, warum. Schließlich war er hier, um Chantal alles anzubieten, was sie sich nur wünschen könnte. Sich selbst, seinen Rang, seinen Reichtum und ihre Tochter. Ja, er kam mit vollen Händen. Kein Grund also, sich Sorgen zu machen.
Wie sich allerdings herausstellte, irrte er gewaltig, denn es gab jede Menge Gründe und nicht nur einen.
»Miss Marchant ist nicht mehr im Haus, Sir.«
Die Worte trafen Colin wie der Blitz aus heiterem Himmel. Er konnte den Butler bloß erstaunt ansehen. »Aber sie muss hier sein. Meinen Informationen zufolge ist sie erst vor ein paar Tagen mit Lord Bertram…«
»Wer ist da, Petrie?«
Eine Stimme, die nach zu viel Alkohol klang. Colin schaute an dem Diener vorbei und erblickte einen reichlich ramponiert aussehenden Mann, der angetrunken den Flur herunterkam. Der »hübsche Bertie« machte seinem Namen ganz und gar keine Ehre. Er betrachtete die Besucher aus rot geränderten Augen. »Was wollen Sie von Chantal?«
Colin wich diskret zurück, um der Whiskyfahne des jungen Lords auszuweichen, was der unglückliche Diener nicht mehr schaffte.
»Ich versuche sie zu finden«, antwortete Colin. »Ich muss sie etwas Wichtiges fragen.« Mehr wollte er von seinem Vorhaben nicht preisgeben.
Bertram Ardmore verzog das Gesicht. »Ich wollte sie auch etwas Wichtiges fragen. Doch dann ist mein blöder Bruder mir zuvorgekommen.«
»Wie bitte?«
Er erhielt keine Antwort mehr, denn der angetrunkene Lord entschwand bereits wieder, stützte sich beim Gehen schwer an der Holzvertäfelung ab. Colin schob sich an dem Diener vorbei und ging, gefolgt von Miss Filby, hinter ihm her.
Sie fanden ihn in einem Arbeitszimmer, wo er sich gerade einen weiteren Trostspender eingoss und das Glas in einem Zug leerte. Colin packte ihn am Arm und verhinderte, dass er sich gleich nachschenkte. »Wo ist Chantal?«
Ardmore starrte ihn mit verschleiertem Blick an. »Er hat sie mir weggenommen.« Er streckte den Arm aus und deutete auf das große Porträt, das über dem Kamin hing. »Der da! Baldwin! Mein älterer Bruder, der Earl of Ardmore!«
»Oh, Sie Ärmster«, hauchte Miss Filby.
Lord Bertram stierte in sein leeres Glas. »Sie braucht mich«, murmelte er. »Sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert.«
Miss Filby blickte bei diesen Worten reichlich skeptisch, doch Colin beachtete sie nicht. »Ardmore, können Sie mir sagen, wo sie ist?«
»Nach Gretna Green, nehme ich an. Wohin gehen die Leute sonst, wenn sie heiraten wollen?«
Colin wurde eiskalt. »Heiraten?«
Lord Bertram, der vergeblich seinen Schluckauf zu unterdrücken versuchte, zog ein Blatt Papier aus der Tasche und hielt es Colin hin. Die Tinte war zerlaufen– von Tränen oder vom Whisky? –, sodass die Schrift kaum noch zu entziffern war. »Da steht, es tut ihr leid, aber sie könne ihm nicht widerstehen«, erklärte Bertram. »Und dass sie ihn heiraten will. Ich soll ihr Glück wünschen, und es würde sie schier zerreißen, mich verlassen
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