Ein sinnlicher Schuft
Abhandlung veröffentlichen, dass es Christenpflicht sei, sämtliche Kutschböcke im Königreich zu polstern.
Früher hatte er über so etwas gar nicht nachgedacht, sondern ganz selbstverständlich die Annehmlichkeiten seiner Kutsche genossen, ohne sich zu fragen, wie es wohl dem Mann da draußen auf seinem harten Sitz ergehen mochte. Für ihn war nur wichtig gewesen, wann er endlich ans Ziel kam.
Wenigstens führte nur eine Straße zur schottischen Grenze und nach Gretna Green, wo man sich rasch trauen lassen konnte, ohne dass langwierige Fragen beantwortet werden mussten. Wenn sie auf diesem Weg blieben, der, wie Bertie gesagt hatte, quer durch die Felder Richtung Nordosten bis zum nächsten Dorf verlief, dann würde er Ardmore einholen können, bevor dieser die Great North Road erreichte. Er beugte sich vor und spornte Hector zu höherem Tempo an, damit er so viele Meilen wie möglich hinter sich brachte, bevor…
Die kleine Klappe hinter seinem Sitz öffnete sich, doch Colin ignorierte es.
Komm, Hector!
»Onkel Colin, ich muss mal.«
Als die Kutsche anhielt, schossen beide Kinder heraus, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Pru folgte Melody auf ein Feld, breitete ihre Röcke aus, um sie vor neugierigen Blicken zu schützen, und ließ dann die Kleine für sich selbst ihr Schultertuch aufhalten. Sie hatte keine Eile, zur Kutsche zurückzukehren, denn Mr Lambert wirkte sichtlich ungehalten. Sollte er sich ruhig aufführen, dachte sie. Schließlich war es seine Idee gewesen, mit zwei Kindern in einer kleinen Kutsche durch England zu zuckeln. Und jetzt auch noch nach Schottland.
Außerdem war sie die Jagd nach Chantal herzlich leid. Miss Marchant und ihre vielen Liebhaber! Zu gerne hätte sie gewusst, warum Mr Lambert dermaßen besessen von ihr war. Und das, obwohl er angeblich sie begehrte!
Als sie wieder aufbrechen wollten, fehlte Evan, und Pru blieb nichts anderes übrig, als nach ihm zu suchen. Sie erblickte seinen rotbraunen Haarschopf im hohen Gras. Geduckt und behutsam die Füße aufsetzend schlich sie sich an ihn heran. Selbst wenn sie den Rest ihres Lebens Zeit hätte, mit ihm zu spielen, würde sie ihm niemals all die Streiche heimzahlen können, die er ihr in den letzten paar Jahren gespielt hatte.
Evan wandte ihr den Rücken zu und betrachtete intensiv etwas, das er in den Händen hielt. Jede Wette, dass es entweder schleimig war oder zu viele Beine hatte, dachte Pru und schlich sich leise an ihn heran. Als sie ihm über die Schulter schaute, wurde sie blass vor Schrecken, denn in seinen schmutzigen Händen lag ein Diamantring.
»Woher hast du denn den?«
Er wirbelte herum, die grauen Augen schuldbewusst aufgerissen. »Der gehört uns! Es ist nicht richtig, dass sie ihn bekommen soll.«
»O nein, Evan«, hauchte sie. »Du hast ihn gestohlen.«
Er zuckte bei dem Wort zusammen, reckte aber trotzig das Kinn. »Mr Lambert will ihn Chantal geben. Und ich hab mir gedacht, die schuldet uns was dafür, dass sie dich so mies behandelt hat.« Seine Augen blitzten vor Empörung.
Voller Abscheu dachte Pru daran, wie oft sie in Evans Anwesenheit auf Chantal geschimpft hatte, über ihre Gemeinheiten, ihre Ungerechtigkeit. Das hatte sie jetzt davon.
So etwas konnte böse enden und Evans Aussichten auf eine bessere Zukunft ein für alle Mal ruinieren. Wenn das öffentlich wurde und Mr Lambert ihn anzeigte, landete er im Gefängnis. Der Gedanke, ihren sensiblen kleinen Bruder an einen solchen Ort zu verlieren, ließ sie vor Angst schwindelig werden. Sie streckte ihm zitternd die Hand entgegen. »Gib ihn mir. Ich find einen Weg, ihn zurückzugeben.«
Evan ballte die Faust um den Ring und hielt ihn an seine magere Brust. »Nein. Wir brauchen ihn.«
Pru hob die Hand an sein kleines Gesicht und wischte die Feuchtigkeit aus seinen brennenden Augen. Er hatte solche Angst– nicht nur jetzt, sondern immer. Es zerriss ihr schier das Herz. Sie redete auf ihn ein, wie es früher in ihrer Familie, als seine Kinderwelt noch in Ordnung war, gehalten wurde. »Mein Liebling, du weißt doch, dass Stehlen falsch ist. Denk an die Geschichten, die Papa uns früher nach dem Abendessen vorgelesen hat.«
Sie kniete sich hin und schaute in die grauen Augen, die ihren eigenen und denen ihrer Mutter so ähnlich waren. »Erinnerst du dich nicht daran, wie es war? Mama saß beim Kamin und nähte, während Papa mit dem Ellbogen auf dem Kaminsims dastand und uns laut vorlas. Du und ich, wir haben uns auf dem Sofa
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