Ein sinnlicher Schuft
mich heraus, Manx? Ich nehm’s jederzeit mit dir auf, meinetwegen hier und jetzt. Was meinst du? Messer?«
Olive stöhnte: »Mein armer Fußboden!«, während Pru die Gelegenheit nutzte, um an Colins Seite zu eilen, der vergeblich aufzustehen versuchte. »Spucken Sie’s aus«, flüsterte sie. »Spucken Sie so viel davon aus, wie Sie können.«
Er versuchte es, würgte immer wieder und spuckte aus. »Ich… habe… leider… ziemlich viel… davon… runtergeschluckt…«
Pru sah seine riesig geweiteten Pupillen und die Regenbogenhaut, die jetzt nur noch einen schmalen grünen Ring um das Schwarze bildete. Er grinste sie schief an. »Wenigstens tun meine Rippen… nicht mehr weh…«
Sein Gesicht in beide Hände nehmend zwang Pru ihn dazu, sie weiter anzuschauen, nicht der Müdigkeit nachzugeben. »Wir müssen hier raus, bevor die Wirkung voll einsetzt«, drängte sie ihn. »Wir verschwinden heimlich, wenn Gaffin und Manx kämpfen.«
Eine Hand tauchte wie aus dem Nichts auf und zerrte sie am Kragen hoch. »So, so, aber wir kämpfen nicht.« Gaffin grinste sie an, wie sie da an Manx’ Riesenhand baumelte, hilflos wie ein Kätzchen. »Ich und Manx, wir haben uns auf einen richtig schönen Kompromiss geeinigt. Wir nehmen das Lösegeld und das Geld für die Schulden, und ich bekomme zusätzlich Chantal. Ich sage immer, der Kompromiss ist die Kunst des Gentlemans.«
Auf dem Boden versuchte Colin zu lachen. »Gentleman!«
Gaffin kniff die Augen zusammen. »Sie driften grade in einen Opiumrausch ab, deswegen verzeihe ich Ihnen diese Bemerkung. Außerdem werde ich es Ihnen beweisen.«
Er gab seinen Männern ein Zeichen und deutete auf Colin. »Bringt ihn mit.« Dann marschierte er in die Küche, an deren Ende sich eine niedrige Tür befand. Der Keller, dachte Pru hoffnungsvoll. Mit einem Ausgang nach draußen vielleicht, doch Olives besorgter Blick verriet, dass ihr Optimismus verfrüht gewesen war.
Gaffin öffnete schwungvoll die Tür, machte eine einladende Geste, woraufhin drei Männer Colin mit vereinten Kräften herbeizerrten und seinen Körper nach unten stießen. Pru zuckte zusammen, als sie einen dumpfen Schlag vernahm.
Gaffin lächelte sie an, trat auf sie zu und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Dann neigte er den Kopf und küsste sie, erstaunlich zartfühlend trotz ihrer eisigen Abwehr.
Als er von ihr abließ, lachte er laut über den angewiderten Ausdruck in ihrem Gesicht. »Tja, kleine Näherin, ein echter Bandit würde dich jetzt seinen Männern zum Spielen überlassen.« Sein Lächeln wurde breiter, während sie einen Schein blasser wurde. »Aber so einer bin ich nicht, wie du siehst, sondern ein Geschäftsmann. Ein Gentleman. Willst du mir nicht helfen, Chantal zu finden?«
Sie verzog verächtlich den Mund.
Gaffin legte den Kopf schief. »Du kannst noch ein bisschen darüber nachdenken«, sagte er und gab Manx einen Wink, der Pru mit einem heftigen Stoß ebenfalls in den Keller beförderte. Ohne eine Ahnung, wie tief sie fallen würde, stürzte Pru schreiend in die Dunkelheit.
Evan zitterte, obwohl die Nacht nicht sonderlich kalt war. Aber die Klosterruine wirkte in der Dunkelheit schrecklich unheimlich, denn die weißen Steine schimmerten geisterhaft im schwachen Sternenlicht wie ausgebleichte Knochen.
Verstärkt wurde das Ganze durch sich auftürmende Sturmwolken, fernes Donnergrollen und zuckende Blitze. Eigentlich keine Nacht für ein Picknick. Evan ertappte sich dabei, wie er die Augen schloss, um das gespenstische Bild nicht mehr sehen zu müssen. Vielleicht wäre das Bauernhaus doch die bessere Idee gewesen.
Melody hingegen schien überhaupt keine Angst zu verspüren. Sie kuschelte sich an Evans Seite und flüsterte eine nicht enden wollende Geschichte in Gordy Anns nicht vorhandenes Ohr. Der Junge war froh, dass sie zu klein war, um sich über Dinge wie riesige Knochenfinger Gedanken zu machen. Einen Augenblick lang wünschte er sich, nicht älter als sie zu sein.
Nein. Er musste sich Pru zum Vorbild nehmen, ihre Stärke. Schließlich war sie damals, als sie vor den Trotters davonliefen, kaum älter gewesen als er jetzt. Er erinnerte sich noch genau an ihren Befehl loszurennen– und an ihre Versicherung, dass das Leben außerhalb ihrer Welt künftig besser für sie wäre. Er hatte ihr damals geglaubt und glaubte ihr auch jetzt.
Pru sagte immer die Wahrheit.
Was ihn allerdings tief getroffen und verunsichert hatte, war die Tatsache, dass sie diesmal nicht mit ihm gehen,
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