Ein skandaloeser Kuss
kein sittenloser Wüstling, der eine Frau ausnutzt – trotz meiner Entgleisung vor ein paar Stunden. Sie scheinen mir in Schwierigkeiten zu stecken, und ich möchte Ihnen helfen, wenn ich irgend kann.“
„Indem Sie mich hier festhalten?“
Er ging über die Frage hinweg. „Wenn alles in Ordnung ist, wie Sie behaupten, wie kommt es dann, dass Sie Ihren Titel nicht benutzen, Mylady? Dass Sie Kleider tragen, die aussehen, als seien sie nicht für Sie angefertigt? Und weshalb versuchen Sie sich mitten in der Nacht aus dem Haus zu schleichen?“
Ihr wurde eiskalt bei seinen Worten. „Ich habe keinen Titel.“
„Sie sind nicht Lady Eleanor Springford?“
Nell versuchte ihrer aufsteigenden Panik Herr zu werden. Sie war weder Lady Eleanor noch sonst eine Aristokratin. Eine ihrer Mitschülerinnen hatte so geheißen, ein hochmütiges Mädchen, das ständig mit seiner vornehmen Verwandtschaft angab. Sie war auf den Namen gekommen, weil er ähnlich klang wie ihrer und sich deshalb leichter merken ließ.
Ein lächerlicher Grund, wie sich nun herausstellte.
Aber wenn er Lady Eleanor schon einmal begegnet wäre, dachte Nell, hätte er sofort gewusst, dass ich eine Hochstaplerin bin, und etwas gesagt oder die Konstabler gerufen.
„Nein, und ich habe auch nie behauptet, diese Dame zu sein.“ Sie würde sich in Acht nehmen und ihre Antworten sorgfältig überlegen müssen. „Im Übrigen bin ich nicht durchgebrannt, wie Sie zu glauben scheinen, sondern ich fahre meinen Onkel in Bath besuchen. Und was meine Kleidung betrifft – ich dachte, Sie seien ein Experte für Spinnen, nicht für Damenmode.“
„Ich bin ein aufmerksamer Beobachter.“
„Meine Schneiderin beschäftigt eine entsetzlich ungeschickte Näherin. Unglücklicherweise hatte ich vor meiner Abreise nicht mehr die Zeit, mir eine andere Modistin zu suchen.“
Sie trat ans Fenster und blies indigniert die Luft aus, obwohl ihr die Knie zitterten und der Schweiß den Rücken hinunterlief. „Nun wissen Sie Bescheid, Mylord. Sie finden sicher allein hinaus.“
Er blieb stehen, die Beine leicht gespreizt, und verschränkte seelenruhig die Arme vor der Brust. „Ehe ich nicht sicher sein kann, dass alles in Ordnung ist, bewege ich mich nicht vom Fleck.“
Der Himmel mochte ihr beistehen. Er meinte seine Worte ernst, und er hatte auch keine eigennützigen, ungehörigen Beweggründe. Doch warum musste ausgerechnet sie, und ausrechnet hier und jetzt, auf einen ritterlichen Mann treffen? „Ihr Wunsch, mir zu helfen, in allen Ehren, Mylord. Aber ich stecke nicht in Schwierigkeiten.“
„Dann muss ich wohl annehmen, dass Sie sich davonstehlen wollten, ohne für Ihre Unterkunft zu zahlen.“
Sie erstarrte, während sie fieberhaft überlegte. Dass er genau ins Schwarze getroffen hatte, konnte sie natürlich niemals zugeben. Aber irgendeine glaubwürdige Ausrede musste sie finden, und zwar schnell. „Möglicherweise gibt es auch eine andere Erklärung für meinen Wunsch, diesen Raum zu verlassen, Mylord.“
Fragend hob er eine Braue.
„Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass es mich ängstigen könnte, Wand an Wand mit dem Mann zu schlafen, der mir so dreist einen Kuss gestohlen hat? Weil ich mich vielleicht frage, wessen Sie sonst noch fähig sind – zu Recht, wie Ihre Anwesenheit in diesem Zimmer beweist.“
Bestürzt riss er die Augen auf. „Sie fürchten, ich könnte über Sie herfallen?“
„Was spricht dagegen? Vor ein paar Stunden haben Sie mir Ihre Umarmung aufgenötigt, mich vorhin im Flur belästigt, und dann sind Sie mir in dieses Schlafzimmer gefolgt und weigern sich ausdrücklich, es zu verlassen.“
„Ich bin ein Ehrenmann. Das können meine Freunde und meine Mitarbeiter genauso bezeugen wie Mr Jenkins und seine Frau.“
„Ihr heutiges Verhalten würde ich nicht als das eines Ehrenmannes bezeichnen.“
Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Ich auch nicht. Aber es ist allgemein bekannt, dass Menschen in außergewöhnlichen Situationen außergewöhnliche Reaktionen an den Tag legen. Das muss bei mir der Fall gewesen sein. Ich war nicht ich selbst nach dem Kutschenunfall.“
Ich auch nicht.
Trotzdem sollte er nicht denken, dass er sich alles erlauben konnte und damit davonkam. „Die Frauen auf den Südseeinseln, von denen Sie beim Dinner sprachen – würden die Sie als Ehrenmann bezeichnen, wenn sie eine Vorstellung davon hätten, welches Verhalten man von einem Ehrenmann erwartet?“
„Ja, das würden sie“,
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