Ein skandalöses Geheimnis: Roman (German Edition)
Öllampen erhellt wurde, sah er in der Mitte einen wuchtigen Tisch, an dem Professor Leland stand. Er trug einen Kittel, der ebenso fleckig war wie die Schürze seiner Tochter, und beugte sich gerade über einen Körper. Schockiert erkannte Leo, dass es sich um die Leiche eines nackten Mannes handelte.
Er schaute über seine Brille hinweg zu Leo. »Dein Ehemann braucht dich, Susanna«, sagte er. »Geh nur, ich komme auch ohne deine Hilfe zurecht.«
»Danke, Papa«, sagte sie, trat auf den Gang hinaus und schloss die Tür.
»Das sind also die nackten Männer, die du gesehen hast«, sagte Leo gedehnt. Für ihn ergab alles jetzt endlich einen Sinn.
Sie lachte nervös auf und schaute ihn forschend an. »Stört es dich? Ich habe dir nie so richtig erzählt, was ich mache, weil sogar meine eigene Familie es ziemlich … makaber findet.«
»Und was ganz genau machst du eigentlich?«
Sie nahm ihre Schürze ab und legte sie mit den Handschuhen auf ein kleines Tischchen, schob ihre Hand unter seinen Arm und verließ mit ihm das unheimliche Kabinett des Professors. »Ich fertige anatomische Zeichnungen an von dem, was mein Vater seziert, von Muskeln und Organen. Das braucht er als Anschauungsmaterial für seinen Unterricht – er zeigt den Studenten meine Zeichnungen«, erklärte sie mit einem Anflug von Stolz.
Leo merkte, dass Susanna ihre Arbeit als Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt betrachtete und dass ihr diese Aufgabe große Freude bereitete. Als er sich erinnerte, mit welchem Bedauern sie einmal darüber gesprochen hatte, dass ihr als Frau die Universität versperrt blieb, lächelte er sie an. In diesem Moment wich die Sorge aus ihrem Blick, und sie sah ihn glücklich an. Er tätschelte ihre Hand, die auf seinem Arm lag.
»Warum hattest du das Gefühl, es vor mir verheimlichen zu müssen?«, fragte er.
»Man hat mich vor vielen Jahren gewarnt, es niemals zu erwähnen, und ich glaube, das habe ich wohl einfach verinnerlicht. Es gibt viele von Aberglauben geprägte Vorbehalte, Tote für diese Art wissenschaftlicher Forschung zu benutzen. Vor Jahren geriet mein Vater unter Verdacht, sich seine Leichen auf unrechtmäßige Weise zu beschaffen. Männer, die ihm zuarbeiteten, hatten ohne sein Wissen Schreckliches getan. Es war ein furchtbarer Skandal, an dem die Ehe meiner Eltern fast zerbrochen wäre.«
Sie öffnete eine Tür, durch die man in den Park gelangte, und führte ihn zu einer von Rosenbüschen umrahmten Bank.
Seufzend setzte sie sich hin und fuhr fort: »Meiner Mutter war bei aller Liebe wohl nicht klar, was es bedeutete, mit einem Wissenschaftler verheiratet zu sein. Sie lernten sich übrigens kennen, als mein Großvater ein Cottage auf einem seiner Güter an meinen Vater vermietete. Zurück zu dem Skandal. Meist handelte es sich bei den Leichen, die ihm zur Verfügung gestellt wurden, um zum Tod verurteilte Verbrecher. Daneben sollten die Mitarbeiter sich umhören, welche Körper sonst noch für die Wissenschaft freigegeben wurden – etwa wenn keine Angehörigen da waren, die für ein Begräbnis sorgten. Dabei ging es vor allem um Frauen. Nun, die Männer, die für ihn arbeiteten, machten es sich einfach und stahlen weibliche Leichen, entweder aus den Aufbahrungshallen oder aus den Gräbern.«
Leo nickte. »Ich habe davon gehört.«
Wind kam auf und wehte ihr ein paar Strähnen ins Gesicht. Zärtlich strich er sie ihr hinters Ohr zurück. »Erzähl weiter«, bat er sie.
»Zwar wurde schnell festgestellt, dass mein Vater nichts damit zu tun hatte, aber er erlangte durch diese Geschichte trotzdem traurige Berühmtheit. Meine Mutter war über die Maßen entsetzt, hielt jedoch das Ganze weitestgehend von uns Kindern fern. Es hat viele Jahre gedauert, bis sie darüber hinweg war, und du kannst dir sicher vorstellen, dass sie mein Engagement für die Arbeit meines Vaters nicht gerade gerne sieht.«
»Vermutlich haben sie nie darüber gesprochen, und so etwas tut nie gut«, murmelte Leo.
Überrascht bemerkte er, dass Susanna ihm tief in die Augen schaute, als suche sie dort nach irgendeiner Wahrheit. Hatte sie etwa den Verdacht, dass er Dinge vor ihr verheimlichte?
»Die Arbeit, die du für deinen Vater verrichtest, stört mich wirklich nicht«, erklärte er und bemerkte, wie sie sich ein wenig entspannte. Aber wirklich … erleichtert sah sie nicht aus. Seltsam.
»Gut. Dann hoffe ich, dass du verstehst, was ich jetzt sage.«
Sie holte tief Luft, als müsse sie ihren ganzen Mut zusammennehmen,
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