Ein Sommer und ein Tag
foghorn whistle blows I got to hear it, I don’t have to fear it.»
In meinem Inneren entzündet sich ein Funke, schießt wie ein Freudenfeuer durch meine Adern. Und dann sehe ich es, ich erinnere mich – die Musik von gerade verschmilzt mit der von früher, wird eins, ein Wirbel aus Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Wirklichkeit, jetzt und damals.
«He!» Ich höre eine Stimme und schrecke hoch. Anderson steht vor dem geöffneten Fenster.
«Bist du schon fertig?», frage ich.
«Es ist eine halbe Stunde vergangen.» Er streckt den Kopf herein. «Was hast du gemacht?»
Ich starre auf die Skizze in meinem Schoß, auf die eine Sache, vor der ich vielleicht die ganze Zeit lang weggelaufen bin.
«O mein Gott!», entfährt es mir. Ich sehe genauer hin, und dann erinnere ich mich. «Ich weiß, wo wir hinmüssen. Los, steig ein. Ich brauche keine Straßenkarte. Ich kenne den Weg.»
Hinter dem Haus gibt es einen Steg. Das hat mir meine Erinnerung verraten. Das haben meine Ohren – beinahe völlig von meinem Gehirn losgelöst – für mich aus dem undurchdringlichen Lärm herausgefiltert.
Ich trage einen rosaroten Badeanzug mit zwei Blümchenstreifen rechts und links. Meine Beine sind mager und schlacksig, meine Hüften haben noch nicht ihre kurvige Form, meine Brüste sind winzige Knospen. An der Schläfe habe ich einen verschorften roten Kratzer, und auf meinen dürren Armen prangen dunkelblaue Flecken, als hätte der kleine Rabauke in mir in diesem Sommer vielleicht zu viel mit Rory gerauft. Auf dem Steg steht ein Lautsprecher, bis zum Anschlag aufgedreht. Van Morrison singt «Into the Mystic», genau wie eben im Wagen, seine Stimme gleichzeitig zärtlich und voller Schmerz. Es ist eine Kassette, die ich mir für den Sommer selbst gemischt habe. Journey, The Police, Jackson Browne, Van Morrison. Alle sind sie darauf versammelt. Natürlich! Es ist so glasklar, dass ich mich am liebsten selbst geohrfeigt hätte, weil ich es nicht früher erkannt habe – die Musik ist der Schlüssel. Ist es immer schon gewesen.
«Komm rein!», ruft eine Stimme aus dem Wasser. «Wer als Letztes am Floß ist, schuldet dem anderen eine Cola.» Ich hebe den Blick und sehe einen Schopf blonder Haare und Arme, die in perfektem Kraulstil durchs Wasser gleiten. Dann nehme ich Anlauf, werfe mich selbst in den kühlen, dunklen See und paddle unter Wasser mit den Beinen, so schnell ich kann, bis meine Lunge protestiert. Ich tauche auf und sehe, dass er schon angekommen ist – in knapp fünf Metern Entfernung zieht er sich aus dem Wasser auf das verankerte Holzfloß.
«Du schuldest mir eine Cola!», ruft er grinsend. Kleine Grübchen zeichnen sich auf seinen Wangen ab.
«Nur über meine Leiche!», antworte ich, schlucke etwas Wasser dabei und paddle prustend auf ihn zu. «Du hattest Vorsprung. Das ist unfair.»
Ich habe das Floß fast erreicht, als vom Ufer aus eine Stimme nach mir ruft. Ich drehe mich wassertretend um, und meine zwei Zöpfe winden sich um meinen Hals wie nasse Schlangen.
«Nelly! Jetzt komm!», quengelt Rory. «Du solltest dich doch nicht noch mal nass machen! Du sollst sofort ins Haus kommen.»
Ich drehe mich wieder zu dem Jungen um, sein Gesicht ist nur noch ein trauriger Schatten.
«Komm jetzt! Sofort!», schreit sie. «Mom ist da. Wir fahren nach Hause!»
«Im Ernst? Du hast einfach einen Song gehört und … dich erinnert? Und jetzt weißt du, wo wir hinmüssen?», fragt Anderson.
Wir sind fast da – etwa fünfzig Kilometer außerhalb von Charlottesville. Ich erinnere mich an die Straßen, an den Geruch der Felder, an die Wiesen, und obwohl ich nicht sagen kann, woher, weiß ich, wie wir hinkommen.
«Fahr einfach schneller, ja?», bitte ich ihn, weil ich es nicht beschreiben kann und auch weil es keine Rolle spielt: Ich weiß es einfach, ich habe etwas gesehen, und jetzt will ich so schnell wie möglich ankommen, um eine Bestätigung zu haben. Genau das hatte Dr. Stark vor knapp vier Monaten und einer ganzen Ewigkeit gesagt; er hat mir erklärt, dass es vielleicht eine Blockade gäbe wie eine Zwangsjacke, in die ich mich selbst eingenäht habe, und jetzt besteht vielleicht tatsächlich die Möglichkeit, mich eigenständig wieder daraus zu befreien. Alle haben mir ständig erzählt, ich wäre schon immer eine Musikerin gewesen, von Anfang an hochbegabt («Das hast du von mir!», hat meine Mutter gesagt), doch mein Vater hätte mich zur Malerei gedrängt. Und als er ging, hätte ich meine
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