Ein Sommer und ein Tag
fällt mir wieder ein: die Schlüssel! Gefunden in der hintersten Ecke auf dem obersten Regalbrett in meinem Büro in der Galerie. Sie haben die Hoffnung in mir entfacht, etwas in mir zum Glühen gebracht, mir das Gefühl gegeben, ich könnte durch sie vielleicht endlich etwas herausfinden. Diese Schlüssel haben mich überhaupt erst auf den Weg gebracht. Es ist unmöglich umzukehren, ohne es zumindest versucht zu haben.
Ich ziehe die Schlüssel heraus, überlege, mit welchem ich es probieren soll, obwohl sie alle drei identisch sind, und da höre ich es: Das Schloss wird von innen aufgesperrt. Ich blicke auf, um dem Schicksal ins Gesicht zu sehen, dem Richter. Aber Richter über was eigentlich? Meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft. Alle drei. Im Haus geht das Licht an, dann folgt die Verandabeleuchtung. Ich muss blinzeln, versuche, meine Augen dem Licht anzupassen.
Ein Mann, auf eine ungezähmte Weise gutaussehend, mit Fältchen um die Augen und mit von den letzten Oktobersonnenstrahlen gebräunten Wangen, öffnet schwungvoll die Haustür. Als er mich sieht, erstarrt er.
«O mein Gott!», flüstert er. «Du bist gekommen.»
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27
S ie sieht noch genauso aus wie vor neunzehn Jahren, denkt er und fragt sich zugleich, ob das stimmt, schließlich hat er sie in den Nachrichten gesehen, kennt das traurige Foto vom People -Titelblatt. Vielleicht vermischt sich seine Erinnerung mit der Wirklichkeit, überlegt er, als sie sich auf die Couch setzt und den Kaffee trinkt, den er um diese Uhrzeit noch schnell gekocht hat. Er versucht, sie nicht anzustarren. Aber es ist zwanzig Jahre her. Es gelingt ihm kaum.
«Also wohnst du hier», stellt sie fest. «Nicht mein Vater.»
«Ja», sagt er bereits zum dritten Mal. Er hat über ihre Amnesie gelesen, und es sollte ihn eigentlich nicht so erschüttern, aber das alles – ihr plötzliches Auftauchen, ihre verlorene Erinnerung – ist zu viel für ihn, und er ist möglicherweise genauso schockiert wie sie.
«Und diese Schlüssel?» Sie stellt die Kaffeetasse ab und klimpert mit einem wohlbekannten Schlüsselbund. «Die hast du mir geschickt?»
Er nickt wieder. Auch das haben sie schon ganz am Anfang geklärt.
«Ja. Im März.» Er räuspert sich. «Zusammen mit einem Brief.»
«Ich habe keinen Brief gefunden.» Sie zieht die Augenbraue hoch, als wäre das an der ganzen Geschichte das Erstaunlichste. Keinen Brief gefunden zu haben.
«Ich habe dir einen geschickt.» Er zuckt mit den Achseln und wünscht sofort, er hätte es nicht getan. Er möchte auf keinen Fall arrogant erscheinen. «Dadrin stand, dass meine Mutter gestorben ist und sie gewollt hätte, dass du es erfährst, und ich habe dir geschrieben, dass das Haus immer noch da ist und du hier jederzeit willkommen bist.» Er seufzt. «Du hast nicht geantwortet. Ich wollte mich eigentlich bei dir melden, als ich in den Nachrichten von dem Absturz erfuhr, aber ich habe dein Schweigen so gedeutet, dass du nichts von mir hören willst. Ich dachte, du willst dieses Kapitel nicht noch mal aufschlagen, und dafür kann ich dir wirklich keinen Vorwurf machen.»
Scheiße, denkt er. Er hätte am Ball bleiben müssen. Hätte sich nicht von seinem eigenen Mist davon abhalten lassen dürfen.
«Heather ist deine Mutter.»
«Ja», sagt er. «Erinnerst du dich an sie?»
«Irgendwie schon, ganz vage. In einem Traum …» Sie bricht ab, denkt nach, die Arme fest um sich geschlungen, als wäre ihr immer noch kalt von der Nachtluft. «Ich verstehe es trotzdem nicht. Ich habe so viele Fragen.»
Er mustert sie und fragt sich, wie viel sich in einem einzigen Gespräch erklären lässt, ohne dass sie völlig zusammenbricht. Sie wirkt verändert, aber wer wäre das nicht, nach allem, was sie durchgemacht hat.
«Dein Freund draußen im Auto, willst du ihn nicht reinholen?»
Sie erschrickt, als hätte sie ihn völlig vergessen, und steht so abrupt auf, dass sie mit dem Knie an den Couchtisch stößt. Der Kaffeebecher kippt um und fällt auf den Teppich.
«Kein Problem.» Er winkt ab. «Du gehst ihn holen, ich wische auf und hole uns was zu trinken – ich glaube, da sind noch etwas Cola und Wein im Kühlschrank. Mehr ist nicht da. Ich war an einem Montagabend nicht auf Besuch eingestellt.»
Sie neigt den Kopf, zögert einen Augenblick und sieht ihn an, wie ein Kind im Zoo ein Tier ansieht.
«Cola», sagt sie wie hypnotisiert.
«Ja … Cola. Ich habe noch ein paar Dosen im Keller.»
«Du – du
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