Ein Sommer und ein Tag
weiterkommen.
«Gehen Sie nicht rein?» Eine Frau tippt mir auf die Schulter, und ich erschrecke.
«Entschuldigung?», sage ich.
«Auf die Toilette. Gehen Sie nicht rein? Ich müsste nämlich furchtbar dringend.»
«Nein, nein, gehen Sie ruhig vor.» Ich winke sie vorbei. Sie eilt hinein und schlägt die Tür hinter sich zu.
Das Baby. Ich muss mich mit dem Baby auseinandersetzen, muss endlich wissen, was ich vorhatte – meine Antworten bekommen. In mir zieht sich alles zusammen, und der Appetit ist mir längst vergangen.
«Ich warte im Auto», rufe ich Anderson auf dem Weg nach draußen zu. «Komm einfach nach, wenn du fertig bist.» Draußen angekommen sehe ich mich um, als läge die Antwort irgendwo hinter den Lastwagen versteckt, hinter den Kleinbussen, die den Parkplatz verstopfen. Nein , denke ich. Hier nicht . Wenn es überhaupt Antworten gibt, muss ich ernsthafter nach ihnen suchen, um sie zu finden.
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26
«Into the Mystic»
Van Morrison
***
D as Radio hat so gut wie keinen Empfang, nur ein Oldiesender lässt sich mühsam einstellen, doch auch der ist immer wieder verrauscht, obwohl der Wagen steht. Für Ende Oktober ist es wirklich ein strahlender Tag an diesem verlassenen Flecken Erde vor den Toren der Hauptstadt. Herbstlaub fällt von den Bäumen: leuchtend rot, goldgelb, ein reiches Fest der Farben. In der Luft liegt der würzige Geruch von Brennholz, es duftet nach Muskat, und ich verspüre den drängenden Wunsch – das Fenster heruntergekurbelt, die warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht –, mich endlich zu erinnern. Daran zu erinnern, wie es war, als Kind einen Herbsttag einzuatmen, sich an Halloween zu verkleiden oder im Garten meiner Mutter Kürbisse für ein herbstliches Festessen zu ernten. Unser Gedächtnis ist die Basis für alles, aber das wird einem erst bewusst, wenn man plötzlich keines mehr hat. Es ist die Basis einer Ehe, natürlich. Aber auch die Basis von so viel mehr: die Basis für die Familie, das eigene Selbstbild, die Zukunftsideale. Und hier, auf dem Fahrersitz eines gemieteten Geländewagens, auf dem Weg zum Haus der Geliebten meines Vaters, an die ich mich nicht erinnern kann, trifft sie mich wie ein Schlag: die Erkenntnis, dass es vielleicht niemals geschehen wird, dass ich mich vielleicht nie erinnern werde, nicht an die herbstlichen Fußballspiele meiner Kindheit, nicht daran, ob ich gefrorene Weintrauben gelutscht habe, ob ich eine gute Mittelstürmerin war oder ob mein Vater dabei war, um mich von der Seitenlinie aus anzufeuern. Wer, bitte, wer ist man, wenn man nicht weiß, was einen geprägt hat?
Ich habe mich die ganze Zeit fest darauf verlassen: auf die winzigen Erinnerungssplitter, die sich ihren Weg in mein Bewusstsein gebahnt haben. Aber was, wenn es das gewesen ist? Wenn es bei diesen Splittern bleibt, ohne dass je das Ganze zurückkommt? Ein übermächtiges Gefühl des Scheiterns macht sich in mir breit, und mir bricht der Schweiß aus. Was, wenn diese Reise nichts ergibt? Was, wenn das Skizzenbuch meines Vaters überhaupt nichts zu bedeuten hat?
Ich schlage das Buch auf meinem Schoß noch einmal auf. Meine Finger fahren sanft über die Augen, die mir so vertraut sind. Die Emotionen, die in ihnen aufblitzen, sind eindringlich und voller Resonanz.
Denk nach, Nelly, denk nach! Wer ist das? Was bedeutet dieser Mensch für dich? Ich versuche mit aller Kraft, die Schaltkreise in meinem Hirn zu aktivieren, neue Verknüpfungen zu bilden und mir nach monatelangem Herumtapsen in absoluter Dunkelheit auf wundersame Weise Licht zu schenken.
Ich senke die Rückenlehne ab und schließe die Augen, versuche aufs Neue, noch konzentrierter, die Schutzmauern einzureißen, um endlich sehen zu können, was auch immer sich dahinter verbergen mag, was auch immer sich weigert, sich von mir ins Bewusstsein zerren zu lassen. Was habe ich denn noch zu verlieren? Nichts. Mir kann nichts mehr genommen werden, denn ich bin schon ganz am Boden. Ich flehe meinen Willen an, endlich nachzugeben. Gib nach! Ich hab nichts mehr, wo ich noch ansetzen könnte.
Das Rauschen im Radio wird schwächer, dann verschwindet es ganz. Doch plötzlich ist die Musik wieder da und flutet den Wagen, flutet mich. Es ist ein Song, den Rory mir ebenfalls auf den iPod geladen hat, und die Melodie, die Harmonien sind bereits ein Teil von mir, der Text wie eine Vision: Van Morrison, rostig, krächzend, wunderbar.
«When that foghorn blows you know I will be coming home, And when that
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