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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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Finger über die Erinnerung an den Abend, an dem ich schließlich akzeptierte, dass mein Vater weggegangen war und nie zurückkehren würde. Welche Wunden hat er mir noch zugefügt? An welche Wunden komme ich noch immer nicht heran?
    «Hast du schon was rausbekommen?», fragt Anderson und zeigt mit dem Kinn auf die Zeichnungen.
    «Noch nicht, aber ich habe das Gefühl, hier drin liegt der Schlüssel zu etwas, vielleicht zu dem, wo wir gerade hinfahren.» Ich kichere verlegen. «Gott! Wie lächerlich das klingt!»
    «Ich hatte Anfang zwanzig mal eine Phase, wo ich fest an diesen ganzen Mist geglaubt habe – dass wir alle miteinander verbunden sind und es kein Yin ohne Yang gibt.»
    «Dann ist das also Mist für dich.» Ich bin ihm nicht böse.
    «Nein, ich bin mir ganz sicher, dass manche Dinge miteinander in Verbindung stehen, aber wenn mir noch ein einziges Mal jemand sagt, es gibt einen Grund, weshalb das geschehen ist , begehe ich einen Mord.»
    «Sie sagen es, damit sie sich selbst besser fühlen.» Ich zucke gleichgültig mit den Achseln, obwohl ich mich an das Versprechen erinnere, das ich mir gegeben habe, es ernst zu nehmen, mich in mein fabelhaftes Ich zu verwandeln, oder, genauer gesagt, in mein glücklicheres Ich. Mein glücklicheres Ich ist mir noch etwas wichtiger. «Um uns weiszumachen, dass ein höherer Sinn dahintersteckt. Liv wollte mit mir sogar über Gott sprechen.»
    «Gott!» Er lacht und verkneift sich den Zusatz: Wer ist das denn? «Ich glaube, ich mache bei dem Spielberg-Projekt einen Rückzieher», sagt er dann unvermittelt.
    «Bist du verrückt? Niemand zieht sich aus einem Spielberg-Film zurück!»
    «Es kommt mir auf einmal so albern vor. Sich verkleiden und auswendig gelernte Worte aufsagen, die jemand anders geschrieben hat.»
    «Das ist doch idiotisch!» Ich blättere eine Seite weiter.
    «Das ist überhaupt nicht idiotisch! Ich habe einfach im Moment keine Lust, mich zu motivieren. Ich will … keine Ahnung, ich will atmen! Mit der Frau, die mir das Leben gerettet hat, nach Virginia fahren!»
    «Und ich dachte, genau darum ginge es bei unserer zweiten Chance: sich zu motivieren, sich neu auszurichten.» Ich höre mich an wie eine Mutter, die ihr Kind rügt. «Du kannst dich doch nicht von einer Sache abwenden, die du gut kannst, nur weil du Angst davor hast, der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Und benutz mich bitte nicht als Ausrede. Und außerdem: atmen! Was heißt das überhaupt?»
    «Ich habe nie gesagt, dass ich glaube, der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Ich habe gesagt, die Herausforderung ist bedeutungslos.» Er angelt sich ein Päckchen Süßstoff aus dem kitschigen Zuckerbehälter und fängt an, es zu schütteln. Wie nervöse Zuckungen.
    «Warst du nicht derjenige, der mir in der Galerie erzählt hat, dass Kunst nicht bedeutungslos ist? Dass sie in den Menschen etwas berührt und es nur darauf ankommt?»
    Er zieht die Nase kraus und versucht, sich zu erinnern. «Na ja, es ist aber viel einfacher, nicht zuzusagen.»
    «Du willst zehn Jahre Arbeit wegschmeißen, weil es einfacher ist? Wer hat denn je behauptet, es wäre einfach?»
    Ehe er antworten kann, belagern auf einmal zwei Brünette in engen Jeans und Rollkragenpullis, die aussehen, als wären sie aus der Kinderabteilung, unseren Tisch, atemlos und mit großen Augen angesichts der einmaligen Chance, Anderson Carroll persönlich kennenzulernen.
    Ich höre mir ihre übertriebenen Schwärmereien an und verschwinde mit meinem Skizzenbuch auf die Toilette. Sofort schlüpfen sie auf meine Bank, eine nahtlose Überleitung, die Anderson kaum Zeit zum Luftholen lässt. Der sagt Spielberg niemals ab , denke ich, während ich vor der Tür warte, auch wenn es nicht leicht für ihn wird. Hinter der Tür ist die Klospülung zu hören. Ich schlage die Seite mit der Zeichnung auf, die mich schon beim ersten Mal so fasziniert hat: ein zersplittertes Gesicht, ein Kindergesicht. Diese Augen – etwas daran kommt mir vertraut vor. Es sind nicht Rorys Augen. Es sind auch nicht meine.
    Die Klotür geht auf, und eine zerzaust wirkende Mutter mit unordentlichem Pferdeschwanz führt ihr Kind heraus, hält es fest an der kleinen Hand und steuert es zurück zum Tisch.
    Ich starre ihnen etwas zu lange hinterher und beobachte, wie der Junge wieder auf den Hochstuhl klettert, seinen Orangensaft umwirft und die Mutter ihn in ihrer Erschöpfung anfährt, dass er sich gefälligst mit dem Essen beeilen soll, damit sie endlich

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