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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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Möglichkeiten beraubt. Ich will ihn abschütteln, ihn von mir losschneiden, mich aus dem Kokon befreien und herausfinden, welche anderen Möglichkeiten es für mich geben könnte. Ich habe es schon einmal versucht, mich zu erneuern, mit der Couch, den Pullovern und dem Mützchen. Doch diese Dinge waren nichts weiter als Staffage, nichts Wesentliches, nichts von Bedeutung; da muss noch mehr sein. Ich starre mein Bild an und denke nach: Vielleicht stimmt es nicht, dass wir uns nicht ändern können – dass wir uns nicht vom Erbe unseres Schicksals befreien können –, sondern vielleicht müssen wir, um es zu tun, den Mut haben, unser Selbst ganz und gar bloßzulegen, und zwar in dem Wissen, dass uns das, was wir dabei finden, womöglich nicht gefällt. Vielleicht besteht die einzige Möglichkeit zur Entwicklung darin, uns mitten in den Sturm zu stellen, und zwar genau dann, wenn alles in uns danach schreit, Schutz zu suchen. Ja , denke ich. Vielleicht ist es das. Vielleicht kann ich mich in den Sturm stellen, wenn Anderson und Wes mir dabei den Rücken stärken. Vielleicht bin ich jetzt stark genug, mutig genug, es zu tun.
    Ich ziehe mir seufzend die Jacke an. Diese Erkenntnis hat meinen Verstand erschöpft. Seit Monaten durchdenke und durchdenke und durchdenke ich alles. Ich habe es satt. Ich will endlich das Seil kappen, auch wenn der Köder so nahe vor meiner Nase baumelt, dass ich ihn fast ganz schlucken kann.
    Ich mache die Haustür auf, und die schwarze Nachtluft versetzt mir einen Schlag ins Gesicht. Auf der Suche nach der Bank taste ich mich an der Holzwand entlang.
    «He!», höre ich eine Stimme und fahre zusammen.
    «Hilfe! Du hast mich zu Tode erschreckt!» Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit, sodass ich Anderson erkenne, der auf der Bank sitzt.
    «Kannst du nicht schlafen?», fragt er.
    Ich schüttle den Kopf.
    «Dann geht’s dir wie mir», antwortet er. «Öfter mal was Neues.»
    Ich plumpse neben ihn auf die Bank und winde mich unter seinen Arm. Er riecht leicht nach Deo.
    «Ich bin ein bisschen betrunken», sage ich.
    «Und ich zur Abwechslung ein bisschen nüchtern», antwortet er. «Ich habe nach einem Glas aufgehört.»
    «Es gibt für alles ein erstes Mal.» Wir müssen lachen.
    Eine Ewigkeit sitzen wir so da. Den Kopf auf seiner Brust, kann ich sein Herz schlagen hören, langsam, gleichmäßig, beruhigend, und ich frage mich kurz, ob er vielleicht weggedöst ist, endlich Schlaf gefunden hat. Doch dann seufzt er, und ich drehe, ohne darüber nachzudenken, den Kopf, umfasse behutsam seine Wange und küsse ihn. Der Alkohol ist meine Rüstung, beschützt mich, falls ich das jetzt wirklich völlig verhaue, und zeigt mir die Dinge gleichzeitig in einem Licht, wie ich sie noch nie gesehen habe. Anderson ist überrascht, aber dann gibt er nach, und auch wenn ich weiß, dass er das schon mit Tausenden anderen Mädchen getan hat, schließe ich die Augen und tue so, als wäre das meine Bestimmung: Bilde mir ein, der Flugzeugabsturz, die Affäre meines Mannes und die Tatsache, dass mein Vater mich verlassen und enttäuscht hat, hätten nur auf diesen einen Moment hingeführt, diesen Moment, der alles verändern kann. Ich schmecke den Wein auf seiner Zunge, spüre seine vollen Lippen, und als ich mir gerade einrede, dass es für immer so weitergehen könnte, schiebt er mich sanft von sich.
    «Warte», flüstert er und streichelt sanft mit dem Finger über mein Gesicht, als würde er nicht gerade alles kaputt machen. «Ich wollte es dir schon früher sagen, ich habe wirklich versucht, es dir zu sagen – im Auto, und bevor das hier noch weitergeht, muss ich es dir sagen. Es geht um Rory.»

    Ich wache mit einem unglaublichen Schädel auf. Mit jedem Pulsschlag rufen meine Schläfen mir schmerzhaft ins Gedächtnis, wie sehr ich es gestern Abend übertrieben habe. Und als Sahnehäubchen obendrauf noch die Demütigung, mich Anderson an den Hals geworfen zu haben. Es reicht für den Wunsch, eine Packung Beruhigungsmittel einzuwerfen und mir eine ganze Woche lang die Decke über den Kopf zu ziehen.
    «Na ja. Du gehörst mir schließlich nicht», habe ich gestern Nacht zu ihm gesagt, seinen Geschmack noch auf der Zunge, immer noch von der Hitze seines Körpers elektrisiert. Ist ja schließlich nicht so, als hätte ich Besitzansprüche! Ha, ha! Mach dich doch nicht lächerlich! , habe ich gesagt, während es in mir vor Wut brodelte. Trotzdem! War ein bisschen Loyalität denn wirklich zu viel

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