Ein Sommer und ein Tag
es ihr nach, und fast augenblicklich stellt sich bei beiden die lockernde Wirkung des Alkohols ein. Anderson beobachtet sie. Er selbst trinkt viel langsamer, fast mit Bedacht.
«Deine Interpretation des Stegs», spricht Wes aus, was eigentlich offensichtlich ist, betrachtet man die alles überlagernden Grautöne, die Planken, die eher wie Dolche aussehen, das bedrohlich wirkende Wasser, aus dem reflektierte Sonnenstrahlen herausschießen, wie es die Natur nie zustande bringen würde. «Als ihr weg wart, habe ich meine Mutter angefleht, es dir nachschicken zu dürfen, weil ich wusste, wie viel es dir bedeutete. Aber sie hat mich nicht gelassen. Sie hat unmissverständlich klargestellt, dass wir ab sofort keinerlei Kontakt mehr zueinander haben dürfen. Dass dein Vater zu seiner Familie zurückgekehrt ist und alles, was hierblieb» – er zögert, sucht nach den richtigen Worten –, «also alles, was zurückgelassen wurde, als notwendiges Opfer zu betrachten ist. Der Preis des Krieges.»
«Hat sie das wirklich so gesagt?», möchte Anderson wissen.
«Nein. Das sind meine Worte, nicht ihre.» Wes steht auf, um nachzuschenken. «Meine Mutter, unser Vater, deine Mutter» – er zeigt mit dem Korkenzieher auf Nell –, «das war wie eine einzige Riesenpartie Schiffe versenken. Und wenn wieder eins unterging, dann manchmal auf unsere Kosten. Ich weiß noch, wie ich damals, als ihr weg wart, zu meiner Mutter gesagt habe, ich würde mich fühlen, als hätte sie mein Schiff versenkt. Na ja, das und eine ganze Reihe übelster Schimpfworte. Ich war den ganzen Herbst über wütend.»
«Ein ziemlich deprimierendes Bild im Vergleich zu diesem Ort», sagt Nell. «Vielleicht ist es auch nur deprimierend, dass ich mit dreizehn schon so düstere Bilder gemalt habe.» Sie atmet auf. «Himmel!»
«Düster oder nicht, ich mochte es immer besonders deswegen, weil es mich an die Zeit erinnert, bevor alles anders wurde», bemerkt Wes.
«Für immer anders», fügt Nell hinzu.
Er sieht sie einen Augenblick lang perplex an, dann lacht er auf.
«Du bist hier. Also nicht für immer, Nelly.»
Sie antwortet mit einem halben Lächeln, und weil sie so gerne einen Beweis für seine These hätte – es gibt nichts, was sich nicht rückgängig machen lässt –, hört sie auf ihren Instinkt und beschließt, ihm zu glauben.
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28
M ein Gott, ich habe zu viel getrunken. Das zweite Glas Wein war genau richtig, aber das dritte war zu viel, und jetzt bewegen sich die Wände, und der Boden schwankt. Ich begreife, wie schnell das zur Gewohnheit werden kann, eine bequeme Reise hinunter Richtung Abgrund, in dem alles betäubt ist, man nichts mehr spürt, und ich kann Anderson keinen Vorwurf mehr machen, weil er auf diese Weise seine blank liegenden, viel zu empfindlichen Nerven beruhigt.
Dieses Zimmer ist unheimlich. Es riecht nach Vanilleraumduft, und die Wände sind mit steifen Porträts geschmückt, die aussehen wie viktorianische Totenbilder von Menschen, die ich nicht kenne. Früher war das üblich: die Toten zu malen, bleich und mit geschlossenen Augen. Ich liege im Bett, versuche, die makaberen, starren Gesichter zu ignorieren, und frage mich, wie mein eigenes Totenbild aussehen würde. Wer würde es malen? Wie würde man sich an mich erinnern?
Wes hat das Haus für sich, aber es ist zu groß für einen allein. Er hat seit dem Tod seiner Mutter nicht viel daran gemacht. Während er das Bett für mich herrichtete, erzählte er mir, dass Rory und ich in jenem Sommer hier geschlafen hätten, dem Sommer, an dem meine Abwärtsspirale ihren Anfang nahm. Ich stecke den Kopf unters Kissen und versuche, mich daran zu erinnern, wie es nachts im Dunkeln wohl war, an geflüsterte Worte zwischen Schwestern, aber natürlich kommt nichts wieder.
Ich wühle mich aus der Decke und steige aus dem Bett. Die Treppenstufen knarren unter meinen Zehenspitzen. In der Küche brennt das Licht, und auf dem Tisch stehen die schmutzigen Gläser. Ich angle mir meine Jacke von der Stuhllehne und hole beim Anblick des Bilds über dem Tisch tief Luft. Ich bin wirklich erschüttert, wie dunkel ich schon immer gewesen bin. Eleanor Rigby. Eiskönigin. Der Schatten, der mich mein ganzes Leben lang verfolgt.
Ich beiße mir auf die Lippe. Der Alkohol macht mich so klarsichtig, wie nur Alkohol es kann. Das Gewicht dieses Schattens fühlt sich unerträglich an, zu schwer, um geschultert zu werden. Als hätte er mich erstickt, mich all meiner
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