Ein Sommer und ein Tag
bist der Junge vom Steg.»
«Was? Ich verstehe nicht, was du meinst.» Er tritt auf sie zu und führt sie zurück zur Couch. Sie ist zerbrechlicher – er kann ihren Hüftknochen unter seiner Hand spüren – und bleicher als in seiner Erinnerung. Ihre Augen sind verblasst – als läge ein grauer Schleier auf ihnen, der früher nicht da war. Die Wangenknochen treten schärfer hervor, was auch die Nase spitzer wirken lässt.
«Ich habe vorhin etwas gehört – ein Lied im Radio –, und dabei habe ich mich an dich erinnert», erzählt sie. «An einen Steg, ein Wettschwimmen zu einem Floß um eine Cola, die ich dir dann geschuldet habe.»
Sein Gesicht bekommt einen entrückten Ausdruck, dann fängt er breit an zu grinsen, vielleicht so, wie er mit dreizehn auch schon gegrinst hat.
«Ja. Das war ich.» Er lacht. «Du hast eigentlich jedes Mal verloren, auch wenn du es immer wieder versucht hast.»
«Und wir» – sie zögert, zieht nachdenklich die Stirn kraus –, «entschuldige bitte, aber warst du, warst du vielleicht mein erster Freund?»
Er lacht schallend auf, unwillkürlich und aus tiefstem Herzen, doch als er merkt, dass sie keinen Witz gemacht hat, reißt er sich zusammen. «Nein. Tut mir leid. Kannst du dich wirklich überhaupt nicht erinnern?»
«Nein.» Sie setzt sich wieder hin, wartet, ohne ihn aus den Augen zu lassen, auf eine Antwort.
«Okay», sagt er nur und setzt sich neben sie. «Wir waren kein Liebespaar.» Er räuspert sich. «Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich bin dein Bruder.»
Wes sieht, wie sie zusammenzuckt. Ihr Gesicht wird aschfahl, und kurz befürchtet er, sie würde in Ohnmacht fallen.
«Ich weiß, das ist ganz schön viel auf einmal», sagt er.
«Das ist nur die Spitze des Eisbergs», antwortet sie.
«Hör mal, das, was ich dir da eben gesagt habe, ist ein ganz schöner Hammer, und es ist völlig verständlich, wenn dich das erst einmal umhaut.» Er beobachtet sie, fragt sich, ob sie anfangen wird zu weinen, weil er weiß, dass er an ihrer Stelle jetzt bestimmt weinen würde.
«Mich hat in der letzten Zeit wirklich genug umgehauen», sagt sie. «Vorerst genug Zusammenbrüche.»
«Und?»
«Und was?», wiederholt sie. «Und jetzt würde ich langsam gerne wieder aufstehen und zu mir kommen.» Sie blinzelt, und plötzlich fällt es ihr auf. Im richtigen Licht betrachtet, hat er eine seltsame Ähnlichkeit mit Jamie. Die blonden Haare, der Teint. Ja, natürlich, jetzt wird es ihr klar. Kein Wunder, dass sie Jamie vertraut hat. Es lag gar nicht daran, dass ihre Instinkte sie getäuscht haben, sie waren einfach nur verzerrt, fehlgeleitet. Sie denkt noch ein bisschen weiter: Nicht nur das. Nein, sie wollte den Sprung wagen, wollte mit Gewalt anders sein als vorher, und obwohl sie auf die Verbindung der beiden verweisen kann – dass Jamie eine seltsame Ähnlichkeit mit ihrem neu entdeckten Bruder hat –, muss sie trotzdem einen Teil der Schuld auf sich nehmen. Tief in Gedanken schüttelt sie den Kopf. Verantwortung. Sie hat gepokert. Sie hat ihr Blatt gespielt. Sie hat verloren. Die Verantwortung dafür liegt bei ihr.
Es klopft an der Haustür, und sie fahren beide zusammen. Wes geht zur Tür, um aufzumachen.
«Tut mir leid», entschuldigt sich Anderson. «Aber mir war kalt.»
«Komm rein.» Nell winkt ihm zu. «Darf ich dir meinen Bruder vorstellen?»
Wes streckt Anderson die Hand hin, der ihn daraufhin ungläubig ansieht.
«Halbbruder. Ich geh uns was zu trinken holen.»
Nell steht langsam auf und folgt Wes in die Küche. Am Durchgang bleibt sie abrupt stehen wie an einem Abhang und starrt das Bild an, das über dem großen Bauerntisch hängt.
«Von deinem Vater?», fragt Anderson, dieselbe Frage wie vor so vielen Wochen in Nells Wohnung, damals, als sie sich zögernd in ihr neues Leben vorwagte, erstarrt, skeptisch, allein.
Ein Déjà-vu, denkt sie, diesmal aber kombiniert mit dem Rückblick auf sein Leben, der sich einstellt, wenn man am Abgrund steht, bereit zum Sprung.
«Nein, nicht von ihm», antwortet Nell, ehe Wes es tun kann. Denn sie weiß es schon. «Von mir.»
«Das ist hiergeblieben, als ihr damals so schnell abgehauen seid», berichtet Wes, stellt die Weingläser hin und schenkt den Cabernet ein, randvoll.
«Das ist doch der Steg, oder?», möchte Nell wissen. Sie starrt das Bild mit großen Augen an, ohne zu blinzeln. Dann greift sie zu ihrem Glas und leert es bis auf einen winzigen Rest in einem Zug. Wie in einer Wellenbewegung tut Wes
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