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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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So haben Sie und Ihre Schwester auch die Galerie gegründet: ein paar seiner Hauptwerke verkauft, sich damit auf dem Kunstmarkt einen Namen gemacht und schon bei der allerersten Ausstellung Verbindungen zu etablierten Sammlern geknüpft. Sie haben vor etwa sechs Jahren damit angefangen – Rory kam praktisch direkt vom College.»
    «Und was meinen Sie mit … Äh, können Sie mir das Wort zurückgezogen noch näher erläutern?»
    «Zurückgezogen wie … zurückgezogen eben», sagt er, sichtlich befremdet darüber, dass ausgerechnet er mich über diesen fehlenden Ast an meinem Stammbaum in Kenntnis setzt. «Ist praktisch völlig von der Landkarte verschwunden, als Sie noch ein Teenager waren – so um die dreizehn, glaube ich. J.-D.-Salinger-mäßig.» Er macht eine kurze Pause. «Aber nun ja, das ist sicher nicht sehr hilfreich für Sie.»
    «Nein, tatsächlich nicht», gebe ich zu.
    Ich denke an den Zahnspangen tragenden Teenager mit den furchtbaren Haaren in dem groß gepunkteten Ballkleid, und das Mitleid zerreißt mir fast das Herz. Dieses Mädchen – ich – musste einen emotionalen Atomschlag verkraften, weil mein Vater uns ausgerechnet verlassen hat, als ich ihn am meisten gebraucht hätte, um erwachsen zu werden. Doch darüber sage ich nichts laut. Eine Erkenntnis von derart ungeheuerlicher Tragweite kann ich zu diesem frühen Zeitpunkt unmöglich mit Jamie teilen, sosehr ich es auch möchte. Und auch wenn ich mir von ihm die Lösung meiner Probleme wünsche.
    «Brauchen Sie eigentlich überhaupt keine Notizen?», frage ich.
    «Nein, eigentlich nicht.» Er wird rot. «Wie gesagt, für mich ist das die große Story. Ich bin ziemlich gut eingearbeitet.»
    «Okay. Weiter.» Ich beiße mich an den völlig neuen Fragen fest, die diese Nachricht aufwirft, unbändig neugierig auf alles, was Jamie vielleicht sonst noch zutage fördert, und ohne Rücksicht darauf, wie sehr es weh tun könnte.
    «Highschool-Abschluss als Drittbeste Ihres Jahrgangs. Es heißt, Sie wären das musikalische Äquivalent zu ihrem Vater gewesen, hätten sich auf der Highschool stattdessen aber lieber auf Tennis konzentriert.»
    «Was soll das heißen?», falle ich ihm ins Wort.
    «Dass seine Begabung die Malerei war und Ihre die Musik, in Ihren Genen aber alles zusammengekommen ist.» Er zuckt mit den Achseln. «Ehrlich gesagt, über den Aspekt weiß ich nicht allzu viel.»
    Ich nicke. «Weiter.»
    «Trotz Tennisstipendium in Lehigh nach Binghampton gegangen. Abgebrochenes Jurastudium an der NYU. Vor fünf Jahren Hochzeit mit Peter Horner, kurz davor gemeinsame Galeriegründung mit Ihrer Schwester. Kürzlich dann die Trennung von Peter Horner. Passagier an Bord eines Verkehrsflugzeugs, das über Iowa abgestürzt ist, und an diesem Punkt befinden wir uns jetzt.»
    Kürzlich die Trennung von Peter Horner? Wie bitte?
    «Moment! Wie bitte? Peter und ich sind getrennt?» Ich setze mich auf, versuche, näher an ihn heranzurücken, als würde dadurch verständlicher, was er da eben gesagt hat.
    «Ach du Scheiße! Wussten Sie das nicht?» Seine sowieso schon rosaroten Wangen werden tiefrot, und genau das ist es, weswegen ich ihm vertraue. Er ist menschlich in seinen Fehlern und in seinem Mitgefühl – ein guter Reporter, aber trotzdem immer noch Amateur genug, um menschliche Nähe zuzulassen. «O Gott, das haben Sie nicht gewusst? O Gott, O Gott, O Gott! Mir war nicht klar, dass Sie das nicht wussten!» Er steht auf und geht im Zimmer hin und her. «Scheiße! Ich dachte, das hätten Sie gewusst! Es kann doch gar nicht sein, dass Sie das nicht wussten.» Er holt tief Luft, starrt mich an, und ich kann mir vorstellen, wie er als achtjähriger Junge ausgesehen hat. «Bitte bekommen Sie jetzt keinen Herzinfarkt!»
    «Das meinen Sie wörtlich, oder?», sage ich, und er reißt erschreckt den Kopf nach oben. «Nein, Jamie. Ich bekomme keinen Herzinfarkt.» Aber es kann gut sein, dass ich nachher meine beschissene Familie verstümmle, weil mir hier niemand was erzählt! Erst das mit meinem Vater und nun das! Was denn noch alles? Wer noch? Was halten sie eigentlich noch alles in irgendwelchen dunklen Ecken vor mir versteckt, an die ich in meinem Zustand nicht herankomme?
    «Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ich hätte nichts sagen dürfen – Dr. Stark hat sehr deutlich gemacht, dass ich Sie auf keinen Fall aufregen darf, dass Sie in Ihrem Zustand schwierige Gespräche oder aufwühlende Neuigkeiten noch nicht verkraften können.» Er lässt sich auf die

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