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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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oder sich die Tatsache einzugestehen, dass er sich selbst nicht im Griff hatte, dass sein Gehirn, seine Synapsen, seine Chemie ihn dazu zwangen, seinen Weg alleine weiterzugehen. Nein. Nell machte einfach dicht, und schon bald bestand sie nur noch aus harten Ecken und Kanten und einem Rückgrat aus Stahl. Nell war seine Muse gewesen und er ihr Leben. Das war unverzeihlich.
    Schließlich blinzelt Indira und holt tief Luft. Sie wird es ihr erzählen, beschließt sie, häppchenweise, tröpfchenweise; wird ihr genug sagen, damit sie sich ein Bild machen kann, aber doch so wenig, dass dieses Rückgrat aus Stahl nicht wieder alles dominieren kann. Doch noch ehe sie das erste Wort herausbringt, geht quietschend die Haustür auf, und Rory und Hugh rufen laut: «Hallo!»
    «Wobei stören wir euch?», fragt Rory, eine riesige Sonnenbrille ins Haar geschoben, die schlanken Beine in einer abgeschnittenen Jeans. Angesichts der Schönheit ihrer jüngeren Tochter durchflutet Indira eine Woge aus Mitleid für Nell, die ihrer Schwester, obwohl sie klüger war und auf ihre eigene Weise hübsch, niemals das Wasser würde reichen können. Genauso wenig, wie sie je den Erwartungen ihres Vaters hatte genügen können. Ist es denn ein Wunder, dass sie so kalt, so hart, so abweisend wurde?
    «Mom erzählt mir gerade etwas über das Haus.»
    «Das Haus? Gute Idee!», sagt Rory, geht an den Kühlschrank und nimmt sich ein Bier, während Hugh nach einem kurzen «Hallo» in die Runde das Gepäck nach oben trägt. «Hier gibt es bestimmt jede Menge, das deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen kann.»
    «Nicht dieses Haus», sagt Nell. «Ich habe das Bild hier gefunden.»
    Rory öffnet die Flasche, setzt an und bewegt sich, den Blick auf die Leinwand geheftet, auf den Tisch zu. «Das kenne ich gar nicht.» Sie tritt prüfend zurück. «Nicht schlecht. Ich meine, für die Galerie würde ich es zwar nicht kaufen, aber völliger Mist ist es auch nicht.»
    «Rory!», fährt Indira sie an. «Bitte!»
    «Was? Stimmt doch! Ach, und außerdem, es war mir ein Vergnügen, dich neulich vor Peter zu retten.»
    «Wovon redest du?», fragt Nell, und Indira registriert erleichtert, dass sich die Kugel vielleicht doch noch ablenken lässt. Ja, lasst uns über was anderes reden als über dieses verfluchte Haus.
    «Neulich Abend. In der Galerie. Ich habe dafür gesorgt, dass er dableibt, damit du nicht noch mehr Zeit mit ihm verbringen musst.»
    «Ich habe kein Problem damit, Zeit mit ihm zu verbringen», sagt Nell, und Rory verdreht die Augen.
    «Ich hab nur versucht, dir einen Gefallen zu tun», sagt sie.
    «Rory», meldet Indira sich mit ihrem meditativsten Tonfall zu Wort, «du musst endlich deinen Groll loslassen. Wenn deine Schwester ihm nicht böse ist, dann solltest du es auch nicht sein. Er ist ein Mann, der einen Fehler gemacht hat und der sich für diesen Fehler entschuldigt hat. Wir sind alle nur Menschen, und wir sind alle nicht frei von Sehnsucht und Versuchung.»
    «Wir reden hier nicht über Dad», sagt Rory und trinkt ihr Bier mit großen Schlucken. Sie hat diese Sätze schon zu oft gehört. Der Diskussion überdrüssig, winkt sie ab und macht sich auf die Suche nach Hugh.
    «Lust, mir das zu erklären?», fragt Nell, als die Schritte auf der Treppe verklungen sind.
    Eigentlich nicht, denkt Indira und fragt sich, welches Thema ihr unangenehmer ist. Das Haus oder Francis und das, was er in diesem Haus angerichtet hat. Sie steht auf, um sich Tee nachzuschenken, während Nell dasteht und sie beobachtet, abwartend, wie damals, als kleines Kind, als sie auch immer auf irgendjemanden gewartet hat – meistens Francis –, der ihr sagt, was sie tun soll.
    Langsam schenkt Indira sich frischen Tee in die Tasse, beobachtet den aufsteigenden Dampf und wünschte – genau wie Peter vor ein paar Wochen –, es würde Nell erspart bleiben, sich an all das jemals wieder zu erinnern. Wäre nicht alles viel einfacher, wenn sie sich an gar nichts erinnern könnte?
    Doch Indira weiß, dass das unmöglich ist, und so zieht sie ein winziges Stückchen aus dem Hut, in der Hoffnung, dass Nell sich für den Augenblick damit zufriedengibt.
    «Dieses Haus, an das du dich erinnerst», sagt sie und dreht sich wieder zu ihrer Tochter um. «Ich bin dort nie mit dir gewesen. Rory schon – nur für eine Woche. Du hast den ganzen Sommer dort verbracht. Das letzte Mal, als du dort gewesen bist, warst du dreizehn.»
    «Das letzte Mal? Dann war ich also öfter dort?»
    Indira

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