Ein Sommer und ein Tag
atmet hörbar aus und nickt. «Ein paarmal. Ich weiß es nicht mehr genau – zwei-, dreimal.» Viermal, denkt sie, denn sie weiß es haargenau.
«Und dieser eine Sommer? Wieso war es das letzte Mal?»
«Das war der Sommer, in dem dein Vater uns verlassen hat.»
Nell runzelt die Stirn, versucht, zu verstehen. «Jamie hat gesagt, er wäre im Herbst gegangen.»
«Spielt das eine Rolle?», fragt Indira.
«Ja», antwortet Nell. «Natürlich spielt das eine Rolle.»
Indira weiß selbst, dass es eine Rolle spielt, aber sie weicht trotzdem aus. «Es war alles sehr kompliziert. Die Zeit damals. Diese Phase unserer Ehe. Er ging und kam zurück, ging und kam wieder zurück. Bis er dann schließlich endgültig ging und nicht wiederkam.»
Indira erzählt ihr nichts von diesem letzten Sommer, als Nell die Wahl hatte – bei Indira und Rory zu bleiben, zelten zu gehen, gemütliche Abende im Pool zu verbringen, Schmetterlinge zu jagen, Limonade zu machen – oder runter zu ihm auf die Farm zu fahren. Ihre Farm. Heathers Farm. Und Nell hatte ihre Wahl getroffen, eindeutig und glasklar.
Sie erzählt Nell auch nicht, dass sie damals als Teenager keinen einzigen Augenblick zögerte, als Indira ihr im Juni ein riesiges Eis hinstellte, sich zu ihr setzte und ihr erklärte, dass Daddy ausziehen würde und wie sehr sie sich wünschte, Nell würde bei ihr bleiben, obwohl er sie mitnehmen wollte. Kein einziger Zweifel. Indira erwähnt auch seine Dämonen nicht, sagt nichts von seinem Bedürfnis, sich völlig zurückzuziehen, wenn die alles in Brand setzenden Anfälle sich ankündigten. Doch Depressionen sind vertrackte Biester – genau wie die Biester, mit denen er seine Depressionen nährte, wenn es wirklich schlimm wurde: Kokain, Schnaps, Schlaftabletten. Sie erzählt Nell auch nicht, dass sie immer dachte, die Kinder würden von alldem nichts mitbekommen, bis irgendwann einmal alles ans Licht treten würde, wie es bedauerlicherweise bei Eltern manchmal der Fall ist. Dass die Kinder jedoch – natürlich – keineswegs ahnungslos waren. Und sie spricht auch nicht darüber, dass sie eine seltsame Mischung aus Stolz und Scham verspürte – noch immer verspürt –, all das ausgehalten zu haben, bei ihm geblieben zu sein, bis er sich dazu entschied, nicht länger bei ihr zu bleiben. Dass all die zerbrochenen Lampen, die zerschlagenen Teller, die Weingläser an der Wand – dass ein Teil von ihr tatsächlich immer noch glaubt, es sei ein Ausdruck reiner Leidenschaft gewesen, auch wenn ein anderer Teil weiß, dass dies zu den größten Unwahrheiten gehört, mit denen sie sich selbst betrügt. Doch Francis hat während seiner schlimmsten Momente seine größten Werke geschaffen, und unreifer Drang in Indira hindert sie immer noch daran, sich von der Befriedigung zu lösen, die dieses Wissen ihr verschafft. Dass sie sich diesen Schlachten stellte, aus denen die Schönheit erst erschaffen wurde.
«Nimm es mir bitte nicht übel, Mom», fällt Nell ihrer Mutter ins Wort, «aber ich scheiße auf deine Ehe. Ich will was über das Haus wissen.»
Indira versucht, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Es gibt zu viele Dinge, die sie nicht erklären, die sie nicht ans Licht zerren will, Dinge, an die die Mädchen sich wahrscheinlich nicht erinnern können – wobei, Nell vielleicht schon, vor dem Unfall zumindest. Doch, Nell wusste es definitiv, aber sie beide, Mutter und Tochter, haben ein ganzes Jahrzehnt damit verbracht, so zu tun, als sei Nell absolut ahnungslos.
Indira nippt so ruhig wie möglich an ihrem Tee und hofft, dass ihre zitternden Finger sie nicht verraten.
«Ja, das Haus.» Diese Frage ist einfacher zu beantworten. «Das Haus steht in Charlottesville, Virginia.» Sie ist deshalb so spezifisch, weil sie nicht wissen kann, welche Kenntnisse in Nells Gedächtnis überhaupt noch vorhanden sind: Fakten, Bundesstaaten, Statistiken, oder ob das auch alles weg ist.
«Wieso da?»
Indira räuspert sich und fragt sich, welche Nichtantwort wohl noch als Antwort durchgehen kann. «Dein Vater hat dort gelebt. Da hat er die andere Hälfte seines Lebens verbracht, sein Leben ohne uns.»
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12
«Eleanor Rigby»
The Beatles
***
L iv sitzt bei mir im Wohnzimmer auf einem Sessel. «Also, heute versuchen wir es mit freier Assoziation», beginnt sie die Sitzung.
«Okay.» Ich zucke mit den Achseln.
«Ich möchte, dass Sie versuchen, nicht nachzudenken, ehe Sie antworten. Ich möchte direkt an die
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