Ein Sommer und ein Tag
emotionale Mauer heran, und dann werden wir sehen, was darüber – oder darunter – hervorkommt, bevor Ihr Verstand einsetzt.»
«Emotionale Mauer? Bitte erklären Sie mir diese Metapher.»
«Entschuldigen Sie.» Sie wedelt mit der Hand durch die Luft, und mir fällt auf, dass der hellrosa Nagellack ein wenig abgesplittert ist. Wenn man nicht zu genau hinsieht, dann ist Liv makellos – knitterfreie Hose, passender Kaschmirpullover –, doch das ist nur die Oberfläche. Sie ist mehr als nur makellos: Der abgeblätterte Nagellack und die Hundehaare an den Hosenbeinen machen sie sympathisch, menschlich. «Das ist ein Ausdruck, mit dem ich die Mauern beschreibe, die wir selbst um uns errichtet haben. Unser Schutzwall. Manchmal jedoch schaden diese Mauern uns mehr, als sie uns nutzen. Manchmal hindern sie uns daran, an die wirklich bedeutenden Dinge heranzukommen. An den echten, emotionalen Kern.»
«Verstehe.»
«Also … was auch immer Ihnen zuerst in den Kopf kommt, einfach heraus damit.»
«So funktioniere ich zurzeit im Grunde nur», sage ich, und sie lächelt. Also lächle ich auch und spüre, wie sich die Verhärtung an meiner rechten Schulter ein ganz kleines bisschen löst. Die hat sich dort hartnäckig festgesetzt, seit wir vor achtundvierzig Stunden von meiner Mutter zurückgekommen sind.
«In gewisser Hinsicht ist das doch vielleicht sogar befriedigend – die Erfahrung, ganz im Augenblick zu leben», sagt Liv.
«Na ja, ich versuche, anders zu sein, ob mit Absicht oder nicht.»
«Wie meinen Sie das?»
«Weniger zugeknöpft, glaube ich. Offener. Fabelhafter.»
«Fabelhafter?»
«Ich weiß, es klingt albern. Aber ich fühle mich unter Druck, diese Chance zu ergreifen und die Dinge anders zu machen. Ich … na ja, ich habe da dieses Bild von mir – so wie … wie Rachel aus Friends .»
Ich bereue sofort, es gesagt zu haben, schäme mich für meine unreifen Kleinmädchenwünsche. Ich will auch Gelächter vom Band!
«Rachel aus Friends .» Sie grinst. Falls sie sich über mich lustig macht, lässt sie es sich zumindest nicht anmerken. «Inwiefern?»
«Einfach … unbeschwert. Ohne die ganzen Probleme, die meine dysfunktionale Familie mir aufgebürdet hat. Nein, eigentlich überhaupt ohne jegliche Probleme. Punkt.»
Die Klamotten! Die Wohnung! Das Liebesleben! Das will ich auch, das brauche ich. Das habe ich mir im Krankenhaus geschworen.
«Das klingt nicht unvernünftig», sagt sie. «Ich frage mich nur, ob Sie es eigenartig finden – dass das Resultat einer riesigen Katastrophe tatsächlich eine Verbesserung Ihrer Umstände sein könnte.» Ich mustere sie. Ich kann erkennen, wie sie mich dazu verführen könnte, sie für meine Freundin zu halten, obwohl sie in Wahrheit zweifelsohne meine Therapeutin ist. Dr. Stark hat offensichtlich eine kluge Wahl getroffen, als er uns beide zusammenbrachte.
«Nicht die Veränderung ist so schwierig», gebe ich zurück. «Die Veränderung ist tatsächlich der beste Teil daran. Es sind die ständigen Überraschungen. Wie diese Bilder von mir, die ich bei uns zu Hause gefunden habe. Oder die Playlist – The Best of Nell Slattery .»
«The Best of Nell Slattery?»
«Meine Schwester hat mir eine Playlist mit allen Lieblingsbands aus meinem alten Leben zusammengestellt. Ich glaube, mir war Musik eine Zeitlang ziemlich wichtig.» Ich nehme den iPod vom Couchtisch und durchforste die Titel. «Wussten Sie, dass ich nach einem Beatles-Song benannt wurde?» Ich deute mit dem Kinn auf ihre Notizen. «Steht das auch da? Dass mein Vater darauf bestand, mich nach einem Beatles-Song zu benennen, der von der einsamsten Frau der Welt handelt?»
«Nein. Das steht nicht in meinen Aufzeichnungen.» Ihr Blick ist sanft.
Ich antworte, indem ich auf Play drücke und Paul McCartney von den Wänden widerhallt.
«Eleanor Rigby died in a church and was burried along with her name. Nobody came.»
Ich drücke auf Stopp. Mehr ist nicht nötig.
«Meine Schwester hat den Song mit auf die Liste gesetzt. Und ich höre ihn mir an und frage mich, was für Eltern das sein müssen, die ihrem Kind so etwas antun? Welches Erbe sie ihm damit aufbürden?» Ich muss lächeln. «Meine Mutter schwört, dass es nicht so war – es würde zwar stimmen, dass er den Song geliebt hat, aber ihm sei es in erster Linie um den Namen gegangen. Trotzdem. Schon die Vorstellung, allein das Gefühl, damit vielleicht diese Frau – Eleanor Rigby – zu ehren … kein Wunder, dass ich mein Leben nicht
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