Ein Sommer und ein Tag
geliebt habe.»
«Sie haben Ihr Leben also nicht geliebt?»
Ich lege den iPod zurück. «Das ist wahrscheinlich zu hart ausgedrückt. Ich weiß ja gar nicht, ob ich mein Leben mochte. Aber es deutet alles darauf hin, dass es nicht so war. Dass ich mein Leben vielmehr einfach ertragen habe, anstatt» – ich überlege kurz – «es zu umarmen, denke ich.»
«Um noch mal auf den Zustand zurückzukommen, ständig überrascht zu werden. Hat diese Entdeckung Sie beunruhigt?»
«Die Entdeckung, nach welchem Song ich benannt wurde oder dass ich ein armseliges Leben geführt habe?»
Sie zuckt mit den Schultern. «Welche auch immer.»
«Na ja, hauptsächlich bringt mich das zu der Frage, was er sonst noch getan hat. Welche Überraschungen außerdem noch auf mich warten. Oder anders gesagt: Wenn ich nicht verstehe, woher ich komme, wie soll ich dann eine Ahnung davon haben, was es sonst noch alles gibt?»
«Das Gewicht Ihres Erbes, der berühmte Vater, seine Erwartungen an Sie», zählt sie auf und macht sich eine Notiz.
«All das.» Ich beobachte, wie sie alles aufschreibt.
«Und wie fühlen Sie sich damit? Wütend, verletzt, traurig?»
Ich sauge an meiner Wange und starre zum Fenster hinaus. Irgendwo unten heult eine Sirene, doch ich bemerke sie kaum. Der Himmel ist bewölkt. Er sieht irgendwie unheilvoll aus, wie eine Ermahnung, dass der Sommer nicht ewig währt. Ein Helikopter dringt durch die Wolken, ist kurz zu sehen und gleich darauf wieder verschwunden.
«Hauptsächlich verloren, glaube ich. Auch wenn das nicht besonders aufschlussreich ist. Was bleibt denn schon, wenn man jemandem sein Gedächtnis raubt? Ich bin mir sicher, dass es in mir Raum für Wut oder Trauer oder was auch immer gibt, aber wer weiß schon, was ich wirklich fühle?» Ich hole tief Luft. «Wissen Sie, es kommt mir seltsam vor, mit Ihnen zu sprechen. Schließlich sind wir im Grunde genommen Fremde, jedoch kennen Sie meine Akte. Daher wissen Sie eine Menge über mich.»
«Ich weiß ungefähr so viel über Sie, wie Sie selbst über sich wissen», antwortet sie. «Damit kenne ich nur das, was man auch in eine Akte schreiben kann.»
«Also nicht die wesentlichen Dinge.»
«Nein, nicht das Wesentliche», stimmt sie mir zu.
«Ich glaube, ich würde mich ein bisschen wohler fühlen, wenn ich auch etwas über Sie wüsste.»
Sie lächelt. «So funktioniert das aber nicht, Nell.»
«Nur eine Kleinigkeit», bitte ich sie. «Eine winzige Kleinigkeit, damit es nicht ganz so offensichtlich ist, dass ich hier sitze und mich mit einer Therapeutin unterhalte. Um das Gefühl haben zu können, mit einer alten Freundin zu sprechen, die mich schon seit Ewigkeiten kennt.» Ich deute auf ihre Hose. «Sie haben einen Hund.»
Sie zögert kurz. «Ja. Einen Labrador mit hellem Fell.»
«Erzählen Sie mir nur eine Sache, die Sie mit Ihrem Hund gerne tun. Mehr nicht. Eine Sache, dann kann ich mir das vorstellen und Sie als Menschen sehen. Mehr möchte ich gar nicht.»
Sie holt tief Luft und überlegt. «Also gut. Am Wochenende gehe ich gerne früh mit ihm raus auf die Hundewiese, drüben beim Museum. Da setze ich mich hin, lese Zeitung, und wir gehen erst, wenn ich jeden Teil gelesen habe. Das lieben wir beide.»
Ich lasse das Bild vor meinem inneren Auge entstehen: Liv auf einer umzäunten Hundewiese in meiner Nachbarschaft, die real ist, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann. Sie trägt ein Top und kurze Hosen, blättert in der Zeitung, der Hund liegt zu ihren Füßen. So wie eine x-beliebige Freundin und keine vom Krankenhaus beauftragte Therapeutin, die hier ist, um mir bei dem Beweis zu helfen, dass die Kabel in meinem Hirn nicht dauerhaft durchgebrannt sind.
«Danke», sage ich.
Sie nickt. «Also, möchten Sie weiter über das Wochenende sprechen, oder sollen wir mit der freien Assoziation fortfahren?»
«Wie wär’s, wenn ich mit einer Kombination von beidem anfange? Ich werfe Ihnen ein paar Wörter zur freien Assoziation über mein Wochenende hin. Zum Beispiel: peinlich – der Augenblick, als ich die Tür öffnete und Peter vor mir stand, nackt, frisch aus der Dusche; wutentbrannt – als mir klarwurde, dass meine Mutter wusste, an welches Haus ich mich erinnert habe, und es mir einfach verschwiegen hat; ehrfürchtig – beim Anblick des Porträts meiner Mutter im Esszimmer, als mir klarwurde, wie verdammt gut mein Vater war. Wobei das auch herzzerreißend war – weil ich mich nicht an ihn erinnern kann, und … dann gab es noch
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