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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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den Tisch zu legen. Kinder, die klagend um ihre Eltern trauern und nicht zeigen, dass sie es kaum erwarten können, endlich das Erbe anzutreten; der Ehemann, der den Autounfall erst meldet, sobald er die Geliebte vom Ort des Geschehens weggebracht hat. Solche Dinge. Jeder hat seine Geheimnisse.»
    Sam hebt die Augenbrauen und wendet sich wieder ihrem BlackBerry zu.
    «Du glaubst also, dass meine Mutter mir etwas verschweigt?» Natürlich verschweigt sie dir etwas! Das ist doch inzwischen erwiesen!
    Statt eine Antwort zu geben, schiebt Jamie sich ein Stück Kruste in den Mund, und ich gestehe mit einem großen Schluck Cola stumm meine Zustimmung ein.
    «Du bist ein ganz schön kluges Kerlchen, weißt du das?»
    «Na ja, hält sich in Grenzen», antwortet er. «Aber jahrelang untätig auf dem Hof meiner Eltern herumzusitzen und als einzige Beschäftigung Beobachtungen anzustellen hat mir eine gewisse Übung verschafft, die Geschichten anderer Menschen zusammenzureimen – Anfang, Mitte, Schluss; ich glaube, das kann ich ganz gut. Meine Mutter meinte immer, meine Liebe zu Geschichten hätte sicher einen guten Schriftsteller aus mir gemacht.»
    «Und meine Geschichte? Hast du dir die auch schon zusammengereimt?»
    «Das ist ein bisschen schwieriger, weil der einzige Mensch, der die ganze Wahrheit kennt, sich nicht mehr daran erinnert.»
    «Sie ist nicht die Einzige, die die ganze Wahrheit kennt», meldet Sam sich zu Wort, als sie endlich die E-Mail an ihren Chef beendet hat. «Wir sind schließlich auch noch da. Wir, ihre Freunde, ihre Familie. Wir tun unser Möglichstes.»
    «Du hast ja recht, Sam.» Ich lege ihr dankbar den Kopf auf die Schulter. Ich weiß, dass sie dringend im Büro gebraucht wird und dass sie zwischendurch kaum jemals dreißig Minuten übrig hat, um ihren Mann zu sehen oder zum Sport zu gehen. Sie müsste nicht hier sein und auf gummiartigen Pizzastücken herumkauen, die viel zu lange unter der Wärmelampe lagen. «Trotzdem, danke, Jamie – ich weiß, dass du deine Verbindungen nicht hättest ausspielen müssen, um mir dabei zu helfen, Kontakt zu Jasper zu bekommen.»
    Aber nun meldet sich schon wieder Jamies Posteingang. Er hebt den Zeigefinger, wie um zu sagen: Warte kurz , und fängt eilig an zu tippen, voller Eifer, trotz seiner fettigen Finger. Ich stütze das Kinn auf die Hand und wende mich wieder den Skizzen in dem Notizbuch zu. Sam beugt sich zu mir und riskiert auch einen Blick.
    Die Zeichnungen geben abstrakte, überzeichnete Eindrücke wieder von – was eigentlich? Feldern, Sonne, Himmel, Sternen? Sie sollen mir etwas sagen; ich spüre, dass zwischen den einzelnen Bildern ein Zusammenhang besteht, ein roter Faden, der mich von einem zum nächsten führt. Aber nichts daran ist logisch, es gibt nichts, was mir sofort ins Auge springen würde.
    Ich war mal sehr gut darin – ich war diejenige mit dem Blick. Doch ohne die vertrauten Bezugspunkte und die Möglichkeit, auf Erfahrung basierende Schlussfolgerungen zu ziehen, ist von meinem Talent nicht mehr viel übrig.
    «Das hier, was sagt dir das?», will ich von Sam wissen. «Schnell, ohne nachzudenken, sag einfach das Erste, was dir in den Sinn kommt. Freie Assoziation.»
    Ich deute auf eines der Bilder – es sieht aus wie Glas, das zerbrochen ist und wieder neu zusammengesetzt wurde – und schiebe ihr das Buch hin.
    «Keine Ahnung … Kunst war noch nie meine Stärke.» Sie zögert, kneift die Augen zusammen und beißt in ihr Pizzastück. «Eine Farm vielleicht? Ein Silo?»
    «Ein Silo?»
    «Ja, diese Dinger, wie sie auf Bauernhöfen herumstehen. Heißen die nicht so? Ich bin in Chicago aufgewachsen, ich habe keine Ahnung von Landwirtschaft.»
    Ich denke nach. «Vielleicht ist das in Vermont entstanden, wo er sein Atelier hatte. Vielleicht sollte ich nach Vermont fahren.» Ich blättere um, und meine Begleiter wenden sich wieder ihren BlackBerries zu.
    «Meine Güte! Nell Slattery!», ertönt eine überraschte Stimme vom Tresen, und eine Frau kommt auf mich zugeeilt. Ihre blonden Haare wehen hinter ihr her, und ihre Absätze klappern vernehmlich auf dem billigen Linoleumfußboden. «Ich habe dich gleich wiedererkannt!»
    «Nehmen Sie’s mir bitte nicht übel, aber ich habe keine Ahnung, wer Sie sind», gestehe ich.
    «Ach ja, natürlich, wie auch?» Sie wedelt mit ihren perfekt manikürten Fingernägeln durch die Luft. «Ich bin Tina Marquis. Wir haben uns seit … nun ja, seitdem nicht mehr gesehen. Du hattest mich ein paar Monate

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