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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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sagt: «Können wir da jetzt bitte endlich rangehen? Ich bekomme Kopfschmerzen!»
    Ich quäle mich vom Sofa hoch und nehme das Telefon von der Basis in der Küche. Auf dem Band sind zwölf neue Nachrichten. Ich drücke den grünen Knopf und massiere mir die Schläfe.
    «Hallo?», sage ich in den Hörer hinein.
    «Nell?», antwortet eine Stimme. «Tut mir leid, wenn ich störe. Hier spricht Jasper. Jasper Aarons. Wir haben uns neulich in der Galerie getroffen. Ich bin der alte Freund deines Vaters.»
    «Oh, ja, natürlich!» Ich bereue bereits, überhaupt rangegangen zu sein. Ja, ich weiß, wie leid es dir tut, wie sehr du mich bedauerst und wie sehr du dich darüber freust, dass ich Fortschritte mache! Abgesehen von den Reportern werden sämtliche Anrufer Nachrichten in dieser Art auf dem Anrufbeantworter hinterlassen haben.
    «Also, ich habe gerade deine Sendung gesehen» – er räuspert sich –, «und ich glaube, ich habe da etwas, das du dir ansehen solltest. Um ehrlich zu sein, hatte ich es völlig vergessen. Es ist mir erst heute Abend wieder eingefallen.»
    «Was denn? Eine Wegbeschreibung zum Verbleib meines Vaters?», frage ich in dem völlig erfolglosen Versuch, witzig zu sein.
    «Nicht direkt», antwortet er. «Hör mal, ich komme morgen mit dem Zug in die Stadt. Lass uns einen Kaffee trinken gehen. Dann erkläre ich es dir.»

[zur Inhaltsübersicht]
    15
    A m nächsten Morgen um zehn treffe ich mich mit Jasper Aarons in einer nichtssagenden Starbucks-Filiale bei mir um die Ecke. Peter ist zur Arbeit gegangen, und während ich langsam die Straße entlangschlurfe – wobei mir immer noch ab und zu die Rippen weh tun –, wird mir plötzlich bewusst, dass ich, seit ich wieder zu Hause bin, zum allerersten Mal ganz allein unterwegs bin. Als wäre ich ein kleines Kind, das noch einen Babysitter braucht, oder ein Hund, der nur mit seinem Herrchen Gassi gehen darf.
    Jetzt, wo das Labour-Day-Wochenende vorüber ist, kämpft der Sommer einen bereits verlorenen Kampf gegen die Herbstluft. Die Blätter baumeln gefährlich lose an den Bäumen, klammern sich verzweifelt fest, obwohl sie genau wissen, dass nichts ihren Fall abwenden kann. Der Gestank nach Müll, der uns den ganzen August über ein treuer Begleiter war, verschwindet langsam, lässt sich von der Feuchtigkeit aus der Stadt treiben und macht einer lebhaften Frische Platz, fast so, als würde man eine Flasche Haushaltsreiniger aufschrauben. Um mich herum herrscht reges Treiben, die New Yorker gehen hektisch ihrem Alltag nach, ohne die welkenden Blätter zu sehen oder den Duft nach Herbst in der Luft wahrzunehmen, geschweige denn die Winde, die vom Norden in die Stadt wehen und damit drohen, alles zu verändern, wenn auch noch nicht heute.
    Nicht wenige Menschen werfen mir im Vorbeigehen einen zweiten Blick zu: Ein hübscher, hipper Typ Mitte zwanzig nickt mir lächelnd zu, eine gestresste Mutter entschuldigt sich übertrieben wortreich – O mein Gott! Es tut mir furchtbar, furchtbar leid!  –, als ihr kleines Kind mir versehentlich gegen das rechte Bein rennt. Ich ziehe mir die Kapuze meines Pullovers tiefer ins Gesicht, um wenigstens eine letzte Spur Anonymität zu wahren. Endlich husche ich in die Starbucks-Filiale, begebe mich mitten hinein in das überwältigende Aroma von gerösteten Kaffeebohnen.
    Er ist schon da, liest den Kunstteil der New York Times , was mir gleichzeitig absolut stereotyp und völlig logisch vorkommt. Ich zögere kurz, ehe ich zu ihm gehe, und frage mich, ob ich tatsächlich schon bereit bin. Bereit dafür, ihm zu vertrauen. Ihm zu glauben. Und selbst wenn ich es sein sollte, ob ich dann wirklich hören möchte, was er mir zu sagen hat.
    In der gestrigen Sitzung haben Liv und ich die Übung zur freien Assoziation fortgesetzt. Wir haben über Peter gesprochen und über die Fortschritte, die er und ich machen. Dann hat sie mich gebeten, den Begriff Vertrauen zu erforschen, ungefiltert auszusprechen, was mir dazu in den Sinn käme.
    «Fragen Sie später noch mal nach», war meine Antwort.
    «‹Fragen Sie später noch mal nach› ist Ihr erster Gedanke zu Vertrauen ?», hakte sie nach. «Oder haben Sie ‹Fragen Sie später noch mal nach› zynisch gemeint, weil Ihre ungefilterte Reaktion auf Vertrauen Zynismus ist?»
    «Beides», gestand ich ein.
    «Es gibt einen Grund dafür, warum man von blindem Vertrauen spricht», gab sie zu bedenken.
    Ich sah sie forschend an und dachte nicht an Peter, sondern an meine Mutter, die mir

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