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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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fünfte Bier und sank erschöpft aufs Sofa. Ich lag mit meiner Theorie also von Anfang an richtig: Menschen verändern sich nicht. Ich nicht, mein Vater nicht und auch sonst niemand. Scheiß auf die rote Couch, scheiß auf die Pullover, die niedlichen kurzen Blazer und den Schrank, in dem es inzwischen aussieht wie ein Regenbogen. Scheiß auf mein neues, fabelhaftes Ich. Scheiß drauf, scheiß auf sie, scheiß auf ihn.

    Ich entdecke Tina Marquis unter einem pinkfarbenen Regenschirm. Es regnet inzwischen heftiger, und ich gehe so schnell, wie das Gedränge auf dem Gehweg und meine schmerzenden Knochen es zulassen. Wenn das Wetter umschlägt, habe ich ein Ziehen in den Knochen, das vor dem Unfall so bestimmt noch nicht da war. Als wollte mein Skelett mich dazu bringen, im Bett zu bleiben und mich sicher und schützend tief unter der Decke zu vergraben.
    «Süße!», begrüßt mich Tina und zieht mich zu sich unter den Schirm. «Du bist ja pudelnass! Regel Nummer eins bei diesem Wetter: Immer auf alles vorbereitet sein!»
    Es ist unmöglich, nicht mit einem Lächeln auf ihre offene, herzliche Art zu reagieren, trotz meiner Stimmung, trotz allem. Ich ziehe mir die Stöpsel aus den Ohren. Ich glaube, ich weiß, weshalb wir früher Freundinnen waren.
    «Das ist das Problem, wenn man sein Gedächtnis verliert. Einem fehlen sämtliche Grundlagen», antworte ich, streiche mir über die feuchten Haare und fege ein paar vereinzelte Wassertropfen von den Schultern meines Trenchcoats.
    «Also. Ich habe ihm gesagt, dass wir nur kurz reinschauen und dann gleich wieder weg sind», erklärt sie. Ich nicke. Mir kommt das Ganze inzwischen sowieso hoffnungslos vor, wie ein Schuss ins Blaue.
    «Danke, dass du das für mich tust», sage ich. «Mir gelingt es bisher nicht, einen Zusammenhang zwischen den Dingen herzustellen, ich habe das Gefühl, sie passen einfach nicht zusammen.»
    «Hör mal, Nell.» Sie klingt plötzlich ungehalten, wie ausgewechselt. Das Chamäleon hebt seinen Kopf. «Wir waren früher beste Freundinnen. Irgendwann war das vorbei, aber wir sind sehr lange befreundet gewesen, und wenn ich dir helfen kann – und sei es nur ein winziger Gefallen, wie einen Kunden anzurufen, um dir die Wohnung zu zeigen, für die du dich interessiert hast –, dann tue ich es. Das juckt mich überhaupt nicht.»
    «Na ja, aber mir ist klar, dass du sicher Wichtigeres zu tun hast.»
    Tina sperrt die Haustür auf und tippt einen Code in das Kästchen neben dem Eingang.
    «Und ich weiß, wie schwer es dir fällt, um Hilfe zu bitten. Da werde ich mich ja wohl nicht drücken, wenn du es schließlich doch tust.»
    «War das schon immer so? Dass ich nicht um Hilfe bitten wollte?»
    Sie drückt auf den Rufknopf für den Fahrstuhl. «Hm, nicht immer. Ich muss dir ja nicht erklären, dass du, nachdem dein Vater weg war, na ja, unabhängiger geworden bist. Aber wer wollte dir das übel nehmen?» Sie zuckt mit den Achseln, hält mir die Tür auf, und ich betrete den Fahrstuhl. «Ich jedenfalls nicht.»
    «Habe ich dich einfach abserviert? Eiskalt? Ohne Kompromiss?» Ich muss an etwas denken, das meine Mutter damals im Krankenhaus zu mir sagte: Wir haben alle unsere Fehler. Deiner ist, dass du die Welt in Schwarz und Weiß einteilst.
    «Ich war ja nicht die Einzige, deswegen habe ich es nicht persönlich genommen.» Sie lächelt, und wir sehen der Stockwerkanzeige zu, während wir nach oben fahren. «Es ist brutal, ein Teenager zu sein. Wir hatten alle mit unserem eigenen Mist zu tun.»
    «Was war deiner?»
    «Meiner? Ach, das Übliche: Essstörung.» Sie sieht mich an, hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen. «Bulimie. Bis zum zweiten Studienjahr auf dem College.»
    «Wäre es nicht schön, keinen eigenen Mist zu haben?», frage ich, obwohl mir vollkommen klar ist, dass der Verlust der Erinnerung an den alten Mist genau das Gegenteil von schön ist.
    «Dieser Mist macht uns zu dem, was wir sind.» Sie schüttelt den Kopf und lacht. «Vielleicht ist das aber auch absoluter Blödsinn. Das kommt davon, wenn man zu viele Selbsthilfebücher liest.»
    «Vielleicht.» Ich grinse zurück. «Vielleicht ist es genau das.»
    Mit einem Klingeln öffnet sich der Fahrstuhl im sechsten Stock.
    «Gleich hier, nach links», sagt sie und zeigt mir den Weg. Ich mustere den Flur. Er sieht nichtssagend aus, wie in unzähligen anderen New Yorker Wohnhäusern auch. Beigefarbener Teppichboden, triste Beleuchtung, neutrale Tapeten mit langweiligen Streifen. Eine

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