Ein Sommer und ein Tag
wenn du nervös warst. Nur für den Fall. Nur falls du dich entspannen willst.» Ich löse mich aus ihrer Umarmung und sehe sie an. «Nichts Großartiges. Nur eine ganz kleine Sache. Eine Eigenart von dir.» Sie klatscht in die Hände, und ich sehe ihr an, dass sie eindeutig nervös ist. «Also. Du hast dir selbst etwas vorgesungen. Erfundene Lieder. Alle möglichen Melodien, die du dir ausgedacht und zu denen du gedichtet hast. Wenn ich am ersten Schultag oder vor einem Schwimmwettkampf oder Gott weiß was in dein Zimmer kam, hast du am Fenster gestanden, hinausgesehen, ganz in deine eigene Welt versunken, und gesungen.»
«Das ist lieb von dir, Mom.» Ich gebe ihr einen Kuss. Ich kann spüren, dass mich das tatsächlich entspannen würde, dass Musik tatsächlich mein Beruhigungsmittel gewesen sein könnte, und ich bin ihr dankbar dafür, dass sie mir das erzählt. Dankbar zu sein ist gar nicht so schwer, stelle ich fest. Während mein neues und mein altes Ich noch um gemeinsamen Boden kämpfen, kann ich es mir irgendwo dazwischen bequem machen. Angesichts dieser Woge aus Dankbarkeit für sie und für mein Leben gebe ich ihr noch einen Kuss.
«Es ist nichts Großartiges.» Sie zuckt mit den Achseln. «Aber vielleicht hilft es dir, deine Nerven zu beruhigen.
«Ich bin gar nicht nervös, aber trotzdem danke.»
Ich winke Rory zu, die meine Geste nonchalant erwidert und Anderson mit einem eigenartigen Naserunzeln begrüßt. Sein Blick sieht ähnlich aus. Zwischen den zweien herrscht eine eigenartige Spannung, und zwar schon seit der Ausstellungseröffnung. Ich mustere die beiden misstrauisch.
«Ist alles okay bei euch?»
«Ja.» Anderson nickt.
«Klar.» Rory nickt auch. «Warum auch nicht?»
Das Handy meiner Mutter klingelt, säuselnd begrüßt sie Tate und geht weg, um die Pferde zu streicheln, während sie telefoniert. Auf der Straße liegt ein riesiger Haufen Pferdeäpfel, und ich beobachte, wie sie fröhlich tänzelnd einen Bogen darum macht. Das ist meine Mutter. Fast hätte ich laut aufgelacht. Sie schafft es immer, einen Bogen um die Scheiße zu machen. Lächelnd gestehe ich mir ein, dass das wirklich ein bewundernswerter Wesenszug ist, dass ihr Optimismus vielleicht ihr Rettungsring war.
Anderson winkt mich zu einer Bank und legt locker den Arm um mich, als wir sitzen.
«Hör mal, ich wollte mit dir noch was besprechen, ehe es gleich losgeht. Es geht um Paige.» Wir sehen den Kameraleuten bei der Einrichtung des Lichts und dem Abstecken des Weges zu, den wir nehmen sollen. Wir werden würdevoll zwischen West- und Ostseite des Parks hin und her spazieren, um den Herbst und unsere ernsten Gesichter möglichst gut zur Geltung kommen zu lassen, genau so, wie man sie in jeder Reportage sieht, sobald es um jemanden geht, dessen Leben auf einmal eine heftige Wendung genommen hat: der Witwer, der mit verschränkten Armen über den See blickt; die Mutter eines Soldaten auf dem Spaziergang durch die Nachbarschaft, ihre Sorgen ausgedrückt durch die feinen Fältchen um ihre Augen, ihre Untröstlichkeit in den Zug um ihren Mund gemeißelt.
«Welche Paige?», frage ich.
«Paige Connor. Die Reporterin, die bei der Vernissage vor der Galerie aufgetaucht ist. Die von Seite sechs.»
«Was für eine Reporterin?» Rory hat sich unauffällig zu uns rübergeschlichen, neugierig, was es wohl so Intimes zu besprechen gibt, dass Anderson sie ausgeschlossen hat.
«Niemand, den du kennst. Es ging auch gar nicht um die Vernissage. Oder die Galerie», erwidert Anderson scharf.
«Das ist aber kein Grund, gleich so ausfallend zu werden», sagt Rory.
«Wieso denn ausfallend? Was an dem, was ich gerade gesagt habe, war denn bitte ausfallend?»
«Mir hat einfach die Anspielung darin nicht gefallen, dass ich mediengeil wäre. Und außerdem, nur zu deiner Info, haben wir sämtliche Stücke bereits verkauft – Premiere für uns.»
«Wovon redest du eigentlich?», fragt Anderson.
«Wovon redet ihr beide eigentlich?» Verwirrt beobachte ich sie. Beide haben zweifellos die Krallen ausgefahren und drohen, jeden Moment übereinander herzufallen.
«Nichts», sagt Anderson. «Es hat nichts mit Rory zu tun.»
Er wirft ihr einen bösen Blick zu, als wollte er sagen: Halt verdammt noch mal die Klappe und kümmere dich um deinen eigenen Kram , und sie schießt mit einem Blick zurück, der eindeutig meint: Ebenfalls! Es hat dich keiner gebeten, dich in unsere Angelegenheiten einzumischen.
«Es geht um Paige. Sie ist Klatschreporterin
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