Ein Sommer und ein Tag
-Magazin, die Kranke aus American Profiles . Ich werfe ihnen einen bösen Blick zu. Synchron ziehen sie ihre Kappen noch tiefer ins Gesicht und treten auf die Straße, obwohl die Ampel immer noch Rot zeigt.
Peter und ich beenden das Gespräch. Ich stecke das Telefon in die Tasche, ziehe meinen iPod heraus und stecke mir die Kopfhörer in die Ohren. Auf der Suche nach der richtigen Begleitmusik für die Wut in meinen Schritten durchsuche ich den Inhalt. Schließlich entscheide ich mich für die Smiths und gehe weiter.
Das Gespräch mit meiner Mutter liegt noch nicht mal einen ganzen Tag zurück, und ich fühle mich so verstört wie seit der Zeit unmittelbar nach dem Absturz nicht mehr. Mein mausgraues, mürrisches Ich erhebt trotz all meiner Versuche, es wegzudrücken, lauernd und störrisch sein Haupt. Die Enthüllung meiner Mutter – dass mein Vater, trotz meiner verzweifelten Versuche, seiner habhaft zu werden, wahrscheinlich von Anfang an nichts mehr von mir wissen wollte – hat mich vollkommen aufgelöst. Ich komme mir vor wie ein komplett abgewickeltes Wollknäuel.
Nach diversen erfolglosen Versuchen einzuschlafen hab ich gestern Nacht schließlich Andersons hilfreichen SMS-Ratschlag befolgt, mir «ein Sixpack Bier zu schnappen und einfach loszulassen». Ich warf das Telefon auf Peters Bettseite, schlug die Decke zurück, schlurfte in die Küche und nahm mir ein Sixpack aus dem Kühlschrank, trotz der Medikamente, trotz der vielbeschworenen Nebenwirkungen. Und wenn ich ehrlich bin, es fühlte sich gut an! Locker zu werden, den Endlosmonolog in meinem Kopf zu unterbrechen. Mit dem Bier bewaffnet, ließ ich mich auf dem Klavierhocker nieder und spielte – spontan und frei –, und dann setzte ich tatsächlich auch noch den zweiten Teil des SMS-Ratschlags in die Tat um und ließ los. Ich rief Jasper Aarons an und hinterließ eine eindeutige, vor Kraftausdrücken strotzende Nachricht auf seinem Anrufbeantworter als Botschaft an meinen Vater, falls sie je wieder miteinander Kontakt haben sollten. Danach wütete ich in der Wohnung, griff nach dem Skizzenbuch meines Vaters, riss mindestens die Hälfte der Seiten heraus, um sie in den Mülleimer zu stopfen, der mit schepperndem Deckel seine Zustimmung gab. Ich zerrte die Fotoalben heraus und schnitt meinen Vater aus sämtlichen Kinderfotos heraus – nicht dass er überhaupt auf allzu vielen Bildern gewesen wäre. Aber wenigstens auf einigen. Ein gestelltes Familienfoto beim Holzschuppen. Ein verschwommener Schnappschuss, laut Beschriftung aufgenommen während eines Urlaubs in Arizona. Ein Wassertropfen vom Pool muss eine Ecke der Linse getrübt haben, sodass das Sonnenlicht idyllisch reflektiert wurde – das perfekte Abbild einer perfekten Kleinfamilie.
Und dann gab es eines, das mir bis jetzt entgangen war, weil es nicht eingeklebt, sondern lose dazwischengeschoben wurde. Es musste aus jenem Sommer stammen, dem Sommer in dem weißen Haus, dem Sommer, der irgendwo in meinem Gedächtnis vergraben liegt. Wer hat das Bild gemacht? Ich vielleicht, denn es zeigt meinen Vater, schlafend, allein, zufrieden. Im Hintergrund ist unscharf ein im Werden begriffenes Gemälde zu sehen. Mein Vater trägt einen Schnauzer und ein Ziegenbärtchen, beides hat er sich wohl kurzzeitig wachsen lassen, denn auf allen anderen Bildern ist er zwar verdrießlich, aber immer frisch rasiert. Seine Wangen sind sonnengebräunt, die Wimpern dicht und schützend. Unter dem Sofa, auf dem er schläft, liegt ein Baseballschläger, und alles, einfach alles, ist mit Farbspritzern besprenkelt. Seine Finger, die Kissen, der Holzfußboden neben den Schuhen, die vor dem Sofa stehen.
Ich starrte das Foto an, die Sinne vom vierten Bier benebelt, legte den Kopf schief, und plötzlich explodierte ungebändigter Zorn in mir wie Dynamit, schoss durch mich hindurch wie Lava. Rory meinte, ich hätte damals Monate gebraucht, um zu akzeptieren, dass er uns verlassen hatte. Ich drehte meine Handfläche nach oben und starrte die Narbe an, die sich tief in meine Haut grub. Ich befand mich tatsächlich wieder an haargenau derselben Stelle! Bei meiner Weigerung, die Wahrheit zu akzeptieren. Ich bin vom Himmel gefallen, und mein Vater ist nicht gekommen. Er hat es nicht für nötig befunden, sein egoistisches Bedürfnis nach Einsamkeit zurückzustellen, sich wieder in das hell strahlende Licht der Welt zu begeben, um sein kleines Mädchen zu retten.
Scheiß drauf! Scheiß auf dich, du Arschloch!
Ich öffnete das
Weitere Kostenlose Bücher