Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
fest«, sagt er. »Weil wir da noch eine Stromschnelle vor uns haben.«
Hm, denke ich bei mir, ein Körper kann diese Kälte nicht allzu lang ertragen. Meine Hände zittern vor Aufregung und Kälte. Ich habe schon Horrorgeschichten von Rafting-Unfällen in der Gegend gehört, und die spulen sich jetzt gerade in meinem Kopf ab. Aber es gelingt mir, mich festzuhalten und die nächste Stromschnelle im Wasser abzureiten, auch wenn meine Füße unters Boot geraten und mein Po auf einen Felsen schlägt. Als wir die Strudel endlich hinter uns haben, fordert der Guide mich auf: »Und jetzt klettern Sie rein.«
Das soll wohl ein Witz sein . In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie kraftloser gefühlt. Ich versuche ja, hinaufzuklettern, aber es ist physisch unmöglich. Ich zittere am ganzen Körper. Meine Hände sind nur noch eisige Klauen.
Also packt er mich an der Schlaufe oben an meiner Schwimmweste und zerrt meinen 42 Jahre alten Körper ins Boot. Vor aller Augen. Mit dem Kopf voran und baumelnden Beinen, die an die Tentakel einer Riesenkrake erinnern.
»Sie haben Ihr Paddel festgehalten!«, sagt er anerkennend, und es ist das Netteste, was heute jemand zu mir gesagt hat. Vielleicht sogar den ganzen Sommer über.
»Und meine Sonnenbrille!«, sage ich keuchend und sehe ihn Beifall heischend an, obwohl mein ganzes Gesicht rotzverschmiert ist. »Machen Sie sich keine Sorgen«, füge ich noch hinzu. »Ich bin von hier.« Als wäre ich erst dank meiner Aktion richtig cool. Mein Gott. Alles, was ich denken kann, ist, dass mein Mann mich jetzt erst recht hassen muss.
Als wir uns neben dem Boot befinden, in dem ich ursprünglich saß, klettere ich unkontrolliert zitternd hinüber und sie singen »Happy Birthday« für mich. Sogar mein Mann. Die Zicke aus LA starrt mich mit blankem Entsetzen an: »Das hätte mir nie passieren dürfen.«
In diesem Moment hätte ich ihnen gerne allen gesagt, dass ich doch nur versucht habe, meiner Mutter und vermutlich auch ihnen das Leben zu retten. Aber ich tue es nicht. Ich bibbere. Meine Tochter sieht mich an und ist kreidebleich. »Das war so was von unheimlich, Mom. Mir ist kotzübel. Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Jaja, mir geht’s gut«, lüge ich.
Immer noch kriege ich keinen Augenkontakt mit meinem Mann zustande. Er gönnt mir nur einen Seitenblick, wie man ihn vorüberfahrenden Autos schenkt.
»Das ist übrigens der gefährlichste Platz, auf dem Sie da sitzen«, sagt der Guide lächelnd.
Ich möchte hier noch ergänzen, dass ursprünglich mein Mann dort saß, ich ihn jedoch gebeten habe, mit mir zu tauschen. Weil mein Rücken schmerzte. Ich wünschte, das wäre ihm passiert. Sowohl der Teil, als ich versuchte, meiner Mutter das Leben zu retten, als auch der, als ich von diesem Fluss so gedemütigt wurde.
Für den Rest der Fahrt habe ich meine Rettungsweste und meinen Helm so fest gezurrt, wie es nur geht. Außerdem fürchte ich, an Unterkühlung zu sterben, wenn es noch länger dauert, so kalt ist mir. Aber ich sage nichts. Wann haben Sie das letzte Mal gefroren wie ein kleines Kind, das viel zu lange im Pool war? Mit blauen Lippen und allem. Mir ist noch viel, viel kälter.
Aber ich habe es durchgestanden. Und überlebt. Ich fühlte mich danach sogar ganz gut – wieder eine Gelegenheit, den edleren Weg zu nehmen. Auch wenn es jetzt in meinem rechten Ohr pfeift. Es war mehr oder weniger so wie schon den ganzen Sommer über. Ich konnte wochenlang üben, aber dies hier war der ultimative Test, denn in dem Moment unter Wasser habe ich es gespürt: echte Kapitulation. Wahre Machtlosigkeit und dann echtes Aufgeben.
Nicht wie in höchster Not. Sondern – tatsächlich – das absolute Nichts. Zenartiges Nichtdenken. Loslösung. Der Moment des Erwachens. Vor dem Denken. Wahrer Charakter. All das vereinte sich in diesem Augenblick in dem Fluss. Das Erlebnis war sogar noch intensiver als bei meinem besagten Spaziergang in der Zeit auf dem Internat oder als ich meinen besonderen Moment in Italien hatte. Und sogar intensiver als bei der Geburt meines ersten Kindes, als ich das Gefühl hatte, genau auf der Schwelle zwischen Leben und Tod zu stehen. Damals
meinte ich, sterben zu müssen, damit mein Kind leben könne. Aber noch einmal, es war nicht furchterregend, weil mein Geist ruhig war. Ich schätze, manchmal müssen wir dem Tod sehr nahe kommen, um an diesen Punkt zu gelangen.
Die Angst überkam mich erst nachher. Doch jenen furchtlosen, gedankenfreien Augenblick in der
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