Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
keine Snobs zu geben schien. Stattdessen war die Atmosphäre geradezu künstlerisch aufgeladen. Niemand schaute komisch, wenn ich erzählte, ich sei Schriftstellerin; ganz anders als in Boston. Die Leute nahmen mich ernst. Wir nahmen einander alle ernst. Es fühlte sich an wie eine ganze Stadt voller Menschen, die sich allesamt gerade neu erfanden. Und die Stadt spiegelte dieses Bemühen wider. Jede Ecke pulsierte vor lauter Ausdruckskraft. Sogar die Kanaldeckel waren Kunstwerke. Durch den Regen wirkte alles ein wenig getragener. Als müsse man sich darüber im Klaren sein, dass ein heftiger Guss alles fortspülen könnte. Ich glaube, wir fühlten uns damals alle ein wenig wie Filmstars und setzten voll und ganz auf die Verwirklichung unserer Träume. Wenn wir auch gelegentlich um drei Uhr morgens von Selbstzweifeln geplagt im Bett lagen.
Es lief nicht immer perfekt. Es gab eine Zeit, da mussten mein künftiger Mann und ich jeder seine eigenen Wege gehen – unsere Flügel ausbreiten, ganz für sich. So trennten wir uns. Und vergossen viele Tränen deswegen. Vorher hatte ich ihn noch nie weinen gesehen. Jahre später fand ich heraus, dass er sich damals in meine Wohnung geschlichen und mir einen Pulli geklaut hatte, um mich »riechen« zu können.
Wir gingen mit anderen aus. Aber bald vermissten wir einander. Wir fanden wieder zusammen, und es war besser denn je.
Mit Hilfe einer großartigen Therapeutin … beschlossen wir ein paar Jahre später zu heiraten. Das war ein sehr überlegter Entschluss. Wir fragten einander in einer ganz intimen Zeremonie an einem Flussufer, mit Kerzen und herzförmigen Steinen, die wir seit unserer Zeit in Boston gesammelt hatten.
Freunde fragten besorgt, wie wir heiraten konnten, nachdem wir uns doch bereits einmal getrennt hätten. Und sogar, Gott bewahre, eine THERAPEUTIN konsultiert hatten. (Viele dieser Freunde sind inzwischen geschieden. Fast alle von ihnen waren in Therapie.)
Eine Freundin von mir war besonders kategorisch und sagte: »Ich halte alle, die in den Westen ziehen, für schlichtweg verantwortungslos. Ich meine, vor was laufen die denn davon?« (Sie hätten ihr Gesicht sehen sollen, als ich ihr ein paar Jahre danach eröffnete, wir würden nach Montana gehen.)
Ich habe ihr damals übrigens nicht geantwortet, wahrscheinlich laufen sie vor Leuten wie dir davon .
Stattdessen habe ich ihr verziehen. Denn manchmal, wenn ich zu müde war, um zu rebellieren, und die Angst, so viele Privilegien aufzugeben, mir auf den Magen schlug … wenn meine Eltern, neben all ihren Versuchen, mich zu unterstützen und zu verstehen, ihrer Enttäuschung Ausdruck gaben und
ihre Message eigentlich lautete, streich das Ganze und komm dahin zurück, wo du hingehörst … dann gab es Augenblicke, in denen ich ihnen glaubte.
An sich war ich aber ein böses Kind. Rebellen müssen so sein. Undankbare Bälger. Und dass ich mit meinem Cum-Laude-Abschluss an einem Privat-College Hilfsarbeiterjobs verrichtete, das konnte man ja nichts anderes als eine Dummheit nennen. Vielleicht sogar Verantwortungslosigkeit. Vor allem da es mir nicht gelingen wollte, ein Buch zu veröffentlichen. Und das »bei deiner Herkunft«!
Wen kümmerte es schon, dass man sich in jedem Moment die Finger wund schrieb, wenn man nicht gerade Windeln wechselte, Blumen ausfuhr oder doppelten, halb entkoffeinierten Mokka mit fettarmer Milch zubereitete. ICH hatte keinen ERFOLG. Dabei hätte ich Erfolg HABEN MÜSSEN. Und ich HÄTTE auch Erfolg … wenn ich mich … doch bloß … erwartungsgemäß BENÄHME. Und in einer Werbeagentur spritzige Slogans über Butterkeks-Kobolde schreiben würde.
Aber zurück zu Rilke und Rumi. Zum Traualtar.
Trotz unserer frisch zugelegten westlichen Identität entschieden wir uns auf Drängen meiner Eltern und nach reiflicher Überlegung für eine formelle Hochzeit, um dem, dem wir beide die meiste Zeit unseres bisherigen Lebens angehört hatten, die Ehre zu erweisen. Unseren Familien. Der Gesellschaft, aus der wir stammten. Den Freunden und ihren Familien, die uns mit großgezogen hatten. Es war wie unser letzter Abschiedsgruß, die letzte Runde durch unser Viertel.
Außerdem erschien es uns unfair, die Mehrzahl unserer Freunde und Verwandten zu zwingen, unsere abtrünnige Lebensweise in Seattle nachzuvollziehen. Wir wollten es unseren Lieben gern recht machen. Den Älteren in unseren Familien – von denen es so viele gab. Aber auch der Generation
unter uns – den vielen Nichten und Neffen.
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