Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
Keller hauste damals ein Typ, der nachts herumschrie und den ganzen Tag lang einen Einkaufswagen durch Boston schob. Irgendwie war er mit dem Vermieter verwandt, der die andere Hälfte des Doppelhauses bewohnte. Wir nannten ihn nur den Penner-Bruder. Immer wieder trafen wir ihn in unserer Haushälfte an, als hätte er einen Schlüssel dafür besessen oder ein unbändiges Verlangen nach Sushi verspürt. Zum Glück war und ist mein Mann groß und kräftig. Das Ganze war, wie meine Großmutter zu sagen pflegte, »sub-par«, weit unter dem Durchschnitt. Sehr im Stil des Psychothrillers Bates Motel. Viel Geschrei – »Shut up, Mothaa« – in härtestem Bostoner Akzent und zu allen Tages- und Nachtzeiten.
In unseren Augen waren das so was wie Abtrünnigen-Flitterwochen vor den echten Flitterwochen, die wir in nicht allzu
ferner Zukunft tatsächlich für möglich hielten. Dann würden wir auch eine Brautparty veranstalten, und alles würde zusammenpassen, an glänzenden Handtuchhaltern aus Chrom würden mit Monogramm bestickte Handtücher hängen, gerade so, als wären sie durch Zauberkraft dort gewachsen. Dann würden wir auch Sommergäste erwarten, die zu Hause ihre eigenen Handtücher mit Monogramm hängen hätten, als wäre dies das Selbstverständlichste der Welt.
Obwohl, rebellierten wir nicht noch gegen diese Handtücher mit Monogramm und alles, was sie repräsentierten?
Wie man sich leicht denken kann, waren wir ziemlich verwirrt.
Wir waren so verwirrt, wie es wohl jeder ist, der sein ursprüngliches soziales Umfeld verlässt. Oder wie der Werbe-Guru mich gewarnt hatte. Es war eben nicht leicht, sich bei der Gestaltung des eigenen Lebens als Genie zu erweisen. Nein, Boston war ein zu schlüpfriges Terrain für uns. Es gab zu viele Einladungen zu Partys von Leuten, die sich bereits in ihrem Erfolg im Geschäftsleben sonnten. Mit kostspieligen Haarschnitten, Designer-Schuhen und Haushälterinnen. Denn so gern wir unsere Familien und Freunde auch mochten, sie hatten sich nun mal definitiv für eine Welt entschieden, der den Rücken zu kehren wiederum wir wild entschlossen waren. Das machte alles noch verwirrender. Wir wussten, dass wir uns von ihnen abnabeln mussten, wie bequem es ansonsten auch gewesen wäre. Denn nur so konnten unsere Träume wahr werden.
Also begannen wir, uns ein Leben an einem anderen Ort auszumalen.
Aber wo sollten wir hin? Wir wollten ja nicht vollkommen von der Bildfläche verschwinden. Eigentlich reichte uns schon irgendein Ort, der von den Versuchungen unseres »Zuhauses« weit genug weg war.
»Wie wär’s denn mit Seattle?«, sagte ich eines Tages, als ich gerade in der Zeitschrift Outside las. Damals redeten gerade viele Leute von Seattle. Und wundersamerweise – kaum dass wir begonnen hatten, uns mit den Namen dieser Stadt vertraut zu machen, da bot sich uns auch schon ein Hausmeisterjob für ein Appartementhaus im atemberaubend schönen Queen Anne Hill, mitten in Seattle. Ihn würden die Berge und das Wasser inspirieren, damit er endlich herausfände, was er im nächsten Abschnitt seines Lebens tun wollte. Und ich würde mehr Zeit zum Schreiben finden, da unsere Miete mit dem Hausmeisterjob abgegolten wäre.
Seattle verhieß uns eine Welt der tausend Gelegenheiten. Vielleicht würden wir dort endlich weiterkommen. Vielleicht würde ich Schriftstellern, Malern und Musikern begegnen. Meinem Schlag Menschen. Vielleicht würde es mir gelingen, einen Roman zu veröffentlichen, und dann würden wir eher früher als später die Welt bereisen. Vielleicht käme ich so sogar noch einmal nach Italien.
Das konnten wir alles in Angriff nehmen – und das Beste aus beiden Welten genießen. Und natürlich wir beide zusammen. Wir waren doch Glückskinder, oder etwa nicht?
Und so unglaublich überzeugt von uns selbst.
Ehe. Kinder. Immer häufiger sprachen wir über diese Optionen.
Aber zunächst einmal mussten wir uns in der Welt bewähren. Vor allem, da wir uns für den unkonventionelleren Weg entschieden hatten. Wir selbst kannten jedenfalls niemand, der sein Glück damals in Seattle versucht hätte. Nicht 1989.
Damals gab es gerade diesen ungeheuren Bier-Boom im Nordwesten der USA, und so nahm er trotz seines Abschlusses in Journalistik einen interessanten Job bei einer kleinen regionalen Brauerei an. Die Abenteuer in der Welt des Bieres
erschienen ihm mit 23 deutlich reizvoller als die Arbeit bei einer Zeitung. Damit gehörte er auf einen Schlag zu den coolsten Typen in unserem
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