Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
Flaschengeister im Märchen erinnerten. Das brachte ich alles ins Esszimmer, wo ich mich bäuchlings unter den Esstisch legte und mit den Sachen spielte. Dabei stellte ich mir vor, alle Erwachsenen wären um mich herum versammelt. Ihre glänzenden seidenbestrumpften Beine und hohen Absätze sowie die Bügelfalten und geputzten Herrenschuhe
würden mir anzeigen, dass endlich »die ganze Familie« zu Hause wäre. Also ergibt es durchaus Sinn, wenn ich heute ins Esszimmer gehe, an den Geschirrschrank trete und diese Familienamulette in die Hand nehme. Ich stelle mir meine Großmutter vor, wie sie sie an ihrer Schürze blank reibt. »Sei vorsichtig.«
Gerade jetzt würde ich nur zu gern mit ihr reden. Sie zum Thema Ehemänner befragen. Doch der Geschirrschrank ist das, womit ich ihr am nächsten sein kann.
Ich liebte sie von Herzen. Noch bevor ich ein Teenager wurde, lebte sie einige Zeit bei uns, und ich half, sie zu versorgen – ich fütterte sie, führte sie zur Toilette und schmuggelte sie, entgegen den Warnungen meiner Eltern, mit ihrer Gehhilfe über den rutschigen Marmorboden in die vordere Halle, wo ihr altes Steinway-Spinett stand. Dessen Elfenbeintasten bereits ihre mit Altersflecken übersäten Finger erwarteten. Das Ganze machte vor allem mir Freude.
Sie war eine einfache Frau, bescheiden und stolz darauf, altmodisch zu sein. Sie war die Tochter eines Schweinezüchters. Umso bemerkenswerter, dass sie drauf und dran gewesen war, Opernsängerin zu werden. Doch dann wurde sie von ihrem Professor an der Northwestern University sexuell belästigt. Daraufhin brach sie ihr Studium ab und gründete mit ihrem College-Schwarm eine Familie. Ihr erster Sohn erlitt bei der Geburt einen Hirnschaden, danach kam mein Vater, den sie schrecklich verhätschelte – ihre einzige andere Freude waren die Solopartien im örtlichen Chor der Presbyterianer.
Angesichts ihrer zahlreichen gescheiterten Träume war sie eigentlich niemand, der sein ganzes Herz an einen Schrank mit vergänglichen Sammelstücken hängt. Aber andererseits war sie sentimental und neigte dazu, Dinge persönlich zu nehmen. Also bin ich mir nicht so sicher, wie sie es fände, dass
ihr Hochzeitsservice nun Seite an Seite mit dekorativen Dingen von allen Teilen der Familie steht. Die von ihrer reiselustigen Tante Imari geerbten Mokka-Sammeltassen waren ihr wichtig, doch ihr ganzer Stolz war das Haviland-Service der bescheidenen Farmersfrau aus Illinois, dessen Goldränder von unzähligen Sonntagsessen schon ganz verblasst sind.
Während ich ungefähr eine Stunde lang mit den Fingern über zierliche Henkel von Teetassen glitt und dünne Porzellanteller gegen das Licht hielt, das durchs Fenster hereinfiel, fragte ich mich, ob meine und die anderen Mütter auch Trost bei ihren zerbrechlichen Kostbarkeiten gesucht hatten, wenn ihre Herzen in winzige Scherben zu zerspringen drohten. Ich schwöre, dass ich den alten Schmerz gespürt habe, der in dem Geschirrschrank steckte.
Dann fiel mein Blick auf die knapp zwanzig Zentimeter lange Narbe im Holzboden des Esszimmers, die mein Vater, ihr Sohn also, bei einem Besuch zu Thanksgiving hinterließ, als er seinen Stuhl etwas zu heftig zurückschob. Ihm war das damals ungeheuer peinlich. Ich war dagegen froh. Denn damit hatte er eine Spur in meinem Haus hinterlassen, die mir bliebe, wenn ich ihn schon nicht mehr hätte. Heute fuhr ich mit dem Finger darüber und vermisste ihn. Zu gern hätte ich seine Stimme gehört.
Doch das ist unmöglich. Denn inzwischen ist er gestorben. Wenn ich die Telefonnummer meiner Kindheit wählen würde, hätte ich vielleicht meinen Stiefvater am Apparat. Auch ein netter Mann. Und ich freue mich für meine Mutter, dass sie ihn hat. Trotzdem ist es für mich immer noch hart.
Vielleicht haben Sie die Widmung am Anfang des Buches gesehen:
»Für meinen Vater – Hier ist dein blauer Duesenberg. Auch wenn ich nicht glaube, dass du dort, wo du jetzt bist, ein Auto
brauchst. Und schon gar nicht in meinem Herzen. Danke, dass du immer an mich geglaubt hast.«
Diese oder ähnliche Worte habe ich jedem Buch vorangestellt, das ich je geschrieben habe. Was bedeutet, dass man diese Geschichte nicht erzählen, aber vor allem nicht verstehen kann, ohne einiges über meinen Vater zu wissen. Er starb ziemlich genau heute vor vier Jahren.
Jetzt blicke ich auf sein Foto aus dem Zweiten Weltkrieg an der Wand neben meinem Schreibtisch und überlege mir dabei, welche Gedanken wohl gerade im Kopf meines Mannes
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