Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
Funkeln war nie besonders furchterregend.
Ich denke, unsere begrenzte gemeinsame Zeit war auch der Grund dafür, warum ich ihm am Abend jedes Werktags entgegenlief und rief »Daddy ist da!«. Ich sprang auf seinen Arm, und er trug mich die Treppe hinauf. Doch auch wenn ich mich in seinen Armen sicher fühlte und mir seiner besonderen Vaterrolle so gewiss war, spürte ich doch immer eine gewisse Traurigkeit im Hinblick auf unsere Zukunft. Also klammerte ich mich noch fester an ihn, während er mich ins Elternschlafzimmer trug und dort auf die Ottomane plumpsen ließ, damit er seine »Arbeitskleidung« anziehen konnte.
Diese war so vorhersehbar wie seine übrige Garderobe: Budapester Schuhe sowie Anzüge und klassische Herrenmäntel von Brooks Brothers für Downtown und die Kirche; Gucci-Slipper, Sportsakkos und bunte Krawatten für Dinner- und Cocktailpartys. In der übrigen Zeit: Khakihosen und weiße, ungestärkte Button-down-Hemden – im Sommer mit kurzen, im Winter mit langen Ärmeln. Dazu noch cremefarbene Wollsocken, die meine Mutter liebevoll stopfte, und als sein Markenzeichen Dirty Bucks mit Grasflecken, die er allabendlich wie gute alte Freunde aus seinem Schrank holte. Er liebte sie so sehr, dass ich sie einmal sogar fotografierte, als sie mit Grasschnitt übersät wie ein alter Golden Retriever treu auf der Fußmatte vor der Garage auf ihn warteten. Ich rahmte das Foto und schenkte es ihm zu Weihnachten. Er war zu Tränen gerührt.
»Erzähl mir, wie es war, als du klein warst«, bettelte ich und hielt meine Hand an die rote Bürste des Schuhputzapparates, der unter dem Dachfenster stand.
Dann begann er eine Geschichte aus der Industriestadt am Ufer des Mississippi, die er so geliebt hatte – noch mehr als seine Dirty Bucks. Doch er pflegte immer hinzuzufügen: »Dir hätte es dort nicht gefallen. Es war ganz anders als die North Shore von Chicago.«
Für mich klang Granite City, Illinois, gerade deshalb so exotisch, weil es nicht die North Shore von Chicago war. Exotisch wegen seines industriell geprägten Kleinstadtmilieus, wo die Leute ins Lichtspieltheater gingen, für einen Penny Bonbons kauften, die Kinder mit selbstgebauten Seifenkisten fuhren und ihre Väter in der Fabrik besuchten.
Vor allem war es in meinen Augen jedoch ein magischer Ort, weil es meinen Vater hervorgebracht hatte.
Die Tatsache, dass er jetzt ein echter Gentleman war (mit gediegener Garderobe und einem Schuhputzapparat) und dass er mit Tränen in den Augen davon erzählte, wie er in leer stehenden, halb verfallenen Wohnungen gespielt hatte, und dass sein geliebtes Zuhause in einer Straße lag, die nicht einmal bedeutend genug für einen Namen war (man nannte sie damals einfach C-Street) … all das gab mir die Gewissheit, dass mein Vater etwas ganz Besonderes war. Wie gesagt: Stellen Sie sich Jimmy Stewart vor, und ein wenig Andy Griffith und Dick Van Dyke (der ja, wie mein Vater gern erwähnte, in Danville, Illinois, aufgewachsen war und von meinem Bruder wie ein lange verschollener Bruder verehrt wurde).
Nie werde ich den Abend vergessen, als ich ihm entgegenlief und auf seinen Arm sprang, er mich jedoch auf dem Küchenboden wieder absetzte. »Du bist jetzt zu groß, als dass ich dich noch tragen könnte.« Das war der Anfang vom Ende von etwas, das ich in meinem ganzen Leben nie mehr besitzen würde.
Elternliebe ist eine ganz besondere Liebe. Sie ist jahrelang Vorbild dafür, wie wir uns später selbst lieben sollten. Ganz tief in meinem Unterbewusstsein war mir das damals bereits klar. Doch aufgrund meiner Schätzung blieb meinem Vater eben nicht mehr viel Zeit. Er war schließlich fünfzig Jahre älter als ich. Wie konnte ich da von vielen Jahren ausgehen?
Von jenem Tag an schwebte eine Art Damoklesschwert über meiner Kindheit.
Die Liebe meines Vaters zu mir war einzigartig und berührte mich bis ins Mark. Die Zuneigung meiner Mutter war anders. Sie hatte mehr mit Lernen zu tun: mit Zeitplänen und Sozialkompetenz und angemessenem Verhalten. Für mich war seine Liebe das große Vorbild. Und doch war er derjenige, der mich wohl am ehesten verlassen würde. Tief in mir spürte ich, dass ich, was bedingungslose Liebe anging, wohl bald auf mich allein gestellt wäre. Also tat ich gut daran, zu lernen, wie ich mich selbst liebte, und zwar flott … oder es zumindest vorzugeben, bis ich es tatsächlich beherrschte. Und genau das tat ich, viele Jahre lang … in permanenter Vorbereitung auf dieses Verlassenwerden.
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