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Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks

Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks

Titel: Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Mundson
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Warum nur war er nicht zwanzig oder dreißig gewesen, als ich zur Welt kam, wie die meisten anderen Väter?
    Seiner guten Gesundheit zum Trotz waren meine Befürchtungen doch nicht ganz unrealistisch. Gelegentlich klagte er beiläufig über Herzschmerzen und -rasen, weigerte sich jedoch, deshalb einen Arzt zu konsultieren. An vielen Abenden lag er auf dem Teppich in der Bibliothek und hielt sich die Brust, während meine Mutter und ich ihn anflehten, den Notarzt rufen zu dürfen.
    »Untersteht euch! Wenn ihr das tut, bekomme ich tatsächlich einen Herzanfall. Wagt es bloß nicht. Das ist nur eine kleine Herzattacke. Das geht von selbst vorüber.« Und das tat es auch. Also gewöhnte ich mich daran, bei ihm zu wachen und nicht den Notarzt zu verständigen, während ich mich sorgte, dass es diesmal mit ihm zu Ende ginge.
    Ich wuchs also mit der Angst auf, von meinem Vater verlassen zu werden. Von dem Menschen, der sagte, ich sei etwas Besonderes. So besonders, dass ich es verdiente, berühmt zu werden.

    Es trug auch nicht gerade zu meiner Beruhigung bei, dass meine Schwester und mein Bruder auf Internate gingen, als ich sieben war. Da blieben nur meine Mutter, ich und mein Vater zurück, von dem ich mir sicher war, er könne in jeder Sekunde tot umfallen. Ach, wie würde ich mir wünschen, in der Zeit zurückgehen und diesem kleinen Mädchen sagen zu können, dass sie noch weitere 31 Jahre mit ihm vor sich hätte. Denn mir widerstrebt die Vorstellung, dass ich mich vielleicht weigerte, mich selbst so zu lieben, wie mein Vater es tat … einfach um ihn irgendwie am Leben zu halten.
    Die Liebe einer Tochter zu ihrem Vater kann sehr groß sein, und meine war es ganz offensichtlich. Nicht nur weil er mich so liebte. Sondern weil ich ihn vergötterte. Er war mein Held, und das wusste er auch. Er war ein ganz besonderer Vater. Er arbeitete nicht in der Finanzbranche. Er war auch kein Anwalt oder Arzt. Er arbeitete im Eisenbahngeschäft. Als Kind kam mir das wildromantisch vor. Ich liebte es, dass er mit Eisenbahnen zu tun hatte. Dass die Träger und Bremsbalken, die in seiner Fabrik produziert wurden, in den Güterzügen steckten, die ich als Kind von meinem Schlafzimmerfenster aus in der Ferne über die Trasse der Milwaukee-Bahn rattern hörte. Denn wenn ich mich dann so fühlte, als sei ich der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der noch wach war, wusste ich, dass es noch einen Lokführer da draußen in der Nacht gab, der die Signalpfeife betätigte, und zwar nicht zuletzt wegen der Firma meines Vater und deren Trägern und Bremsbalken. Es beruhigte mich auch zu wissen, dass der Zug noch fahren würde, wenn er nicht mehr da wäre.
    Ich liebte es auch, wie er roch, wenn er von der Arbeit heimkam, ein bisschen nach Druckerschwärze und Haarcreme der Marke Vitapointe – er nannte sie »Greasy Kid Stuff«. Ich liebte es auch, wie er als erste Amtshandlung jeden Abend die Sohlen
seiner Schuhe mit einem Papierhandtuch abwischte – so ordentlich, so bedächtig. Ich liebte auch die Vorstellung, dass er jahrelang jeden Tag auf seinem Weg durch die Stadt die drei selben Menschen grüßte – eine blinde Frau im Rollstuhl am Bahnhof, einen irischen Verkehrspolizisten auf der State Street und den koreanischen Ladenbesitzer in seinem Bürogebäude, bei dem er sich täglich einen Becher Kaffee kaufte.
    Nachdem mein Vater tatsächlich gestorben war, fuhr ich nach Downtown, um diesen Dreien mitzuteilen, dass Mr. Munson nicht mehr kommen würde. Alle drei knickten einen Moment lang ein und gaben kurz ihre übliche großstädtische Abwehrhaltung auf.
    Ich sah auch gern zu, wenn mein Vater sich den Mantel zuknöpfte. Er hatte so bedachtsame Hände, die sich langsam bewegten. Und er war von Natur aus dankbar. Das war es wohl, was ich am meisten an ihm liebte.
    Schließlich war er ein Kind des Ersten Weltkriegs, und sein Charakter hatte sich zu Zeiten der Großen Depression ausgeprägt. Deshalb trödelte er am Telefon auch nicht. »Ihre drei Minuten sind um«, pflegte er zu sagen und imitierte den Ton der Telefonvermittlungsdamen seiner Jugend. Er ließ auch nie etwas auf seinem Teller übrig und aß sogar das Knochenmark und alles Fett. Auf dem Gehsteig hob er Abfall auf. So passierte es meist, wenn ich beim Spazierengehen seine Hand hielt, dass er in der anderen eine zerbeulte Coladose oder ein Süßigkeitenpapier trug.
    Jeden Abend, wenn er vom Bahnhof nach Hause spaziert war, machte er eine Runde durch unser schmuckes Zuhause im

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