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Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks

Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks

Titel: Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Mundson
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bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.« Gänsehaut ist für sie so eine Art Lackmustest für Wahrhaftigkeit.
    Meiner sind Tränen, und die kommen mir in diesem Moment. Ich weiß, dass sie damit sagen will, das sei quasi ein Besuch meines Vaters gewesen. So etwas könnte ich im Moment auch gut brauchen. »Das war ein Virginia-Uhu. Und das mitten am Tag.«
    »So was sieht man nicht oft«, fügt sie hinzu.
    Ich weiß, dass man den Einheimischen hier in Montana besser nicht widerspricht, wenn sie so etwas sagen. Doch sie gehört nicht zu den Leuten, die einen krampfhaft von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen versuchen.
    Wir reiten den Bergrücken hinauf und schweigen für eine Weile. Unsere Pferde sind ein wenig ungestüm, weil sie ihre Herde so kurz vor der Zeit der Fütterung verlassen sollen. Meist bleibt uns das, was wir während dieser gemeinsamen Ausritte nicht aussprechen, dennoch in Erinnerung. Sie ist so eine Freundin.
    Schließlich sage ich: »Und erinnerst du dich auch an die Scham, die ich dir gestanden habe?«
    »Na klar. Das war eine der traurigsten Geschichten, die ich je gehört habe. Du hast gesagt, du hättest dich immer vor Leuten geschämt, die ihr Leben lang knapp bei Kasse sind, weil
du selbst mit tollen Reisen, an teuren Privatschulen und mit allem, was man sich für Geld nur kaufen kann, aufgewachsen bist. Es kam dir deshalb vor, als würde es dir nicht zustehen, dich zu beklagen oder schlecht zu fühlen.«
    Ich behalte für mich, wie oft ich mich damals schlecht fühlte, als ich doch in scheinbar so glücklichen Umständen lebte. »Ich weiß noch, dass ich Angst hatte, du würdest auf der Stelle kehrtmachen und ohne mich davongaloppieren. Es hat mir viel bedeutet, dass du mich damals nicht verurteilt hast. Dafür möchte ich dir heute noch mal danken.«
    »Aber warum hätte ich das tun sollen? Du hast mich schließlich auch nicht verurteilt, als ich dir von meiner Kindheit erzählte. Wir haben uns ausgetauscht. Ehrlich ausgetauscht. Außerdem hast du mir ein Geschenk gemacht, als du mir deine Geschichte anvertraut hast. Das war für mich eine Gelegenheit, nicht engstirnig zu denken. Und die Chance, Einblick in eine fremde Welt zu nehmen. Denn als Kind – und sogar als Erwachsener – glaubt man ja gern, dass andere es besser haben als man selbst. Vor allem reiche Leute.« Sie zeigt auf einen Weißwedelhirsch und lächelt, als würde sie einen alten Freund wiedererkennen. »Und nur weil du viele teure Sachen besitzt, heißt das ja nicht, dass deine Probleme nicht echt wären. Reiche Leute können auf ihre eigene Weise arm sein.«
    Diese Frau macht die Welt tatsächlich zu einem besseren Ort. Sie ist auf einem Terrain zu Hause, das die wenigsten auch nur zu betreten wagen. Sie lebt in Liebe. Sie kennt ihr wahres Wesen. Sie kommt dem Freisein so nahe, wie ich das noch bei keinem anderen Menschen gesehen habe.
    »Danke für dein Verständnis«, sage ich und beobachte, wie der Hirsch, nachdem er sich unserer Harmlosigkeit versichert hat, fortfährt, im Gebüsch nach Futter zu suchen.

    Sie führt uns zu einem Bestand von Gelbkiefern, dann querfeldein einen steilen Hang hinauf. Sie kennt keine Furcht, und ich frage mich, ob die Armut das bei einem Menschen bewirkt. Denn mit Privilegien hat Furchtlosigkeit sicher nicht das Geringste zu tun.
    Dann dreht sie sich um, blickt mir ins Gesicht, und wir bleiben stehen. »Es ist schwer, wenn man sich anders fühlt als die Leute, von denen man umgeben ist. Darum erlaube ich mir kein Urteil über andere Menschen. Und das ist auch der Grund, warum ich Pferde liebe. Sie leben ausschließlich in der Gegenwart. Sie haben mich so viel über die Freiheit gelehrt, die damit einhergeht. Und frei von Vorurteilen zu sein, das ist sowieso etwas sehr Gutes.«
    Gern würde ich ihr von meinem Mann und der Lebensphilosophie erzählen, nach der ich mich zu richten versuche, aber vielleicht ist es besser, erst einmal ganz allein über das Urteilen nachzudenken. Denn gerade mein eigenes Urteil lockt mich in schwachen Momenten in die Falle. »Ich versuche auch, über niemand zu urteilen«, sage ich. »Selbst wenn mir das nicht immer gelingt. Doch ich gebe mir große Mühe darin, weil ich immer eine ziemlich lautstarke, aggressive, gemeine Richterin in meinem Kopf hatte, die den ganzen Tag nur herumsaß und mir mit ihrem Richterhammer ins Gesicht schlug. Deshalb stehe ich Richtern ziemlich skeptisch gegenüber. Die in meinem Kopf nenne ich übrigens Meine

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