Ein Sonntag auf dem Lande
denkt nicht wie du«, sagte er nach einer Weile, um die Diskussion wieder in Gang kommen zu lassen.
»Was mich nicht wundert«, erwiderte Edouard mit einem kleinen säuerlichen Lachen.
»Warum? Irène besitzt doch ein gutes Urteilsvermögen.«
Edouard konnte ein Aufschrecken nicht vermeiden. Er hielt seine Schwester für eine kopflose Person, die bar jeder Logik urteilte. Aber wozu eine Diskussion mit seinem Vater vom Zaun brechen, und dazu noch zu so einem heiklen Thema? Edouard wollte nur eins: seinem Vater Freude machen. Er wusste sehr wohl, dass Monsieur Ladmiral unter dem Zerwürfnis seiner beiden Kinder litt. Was nützte es, ihm dieses Schauspiel oder die Erläuterungen dazu zu liefern? Mehr denn je war Edouard nach diesem Angstgefühl, das ihn vorhin überkommen hatte, nach dieser Erleuchtung, als er begriffen hatte, dass sein Vater bald sterben würde, dazu entschlossen, vorsichtig zu sein, jeden Streit zu vermeiden und Monsieur Ladmiral jeden Kummer und jede Aufregung zu ersparen. Dieser alte Mann, dieser alte Maler, dessen friedliche und besonnene Existenz zu Ende ging, hatte es wohl verdient, dass man alles daransetzte, ihm sein Lebensende, wie er es wollte und sich vorstellte, so leicht wie möglich zu machen. Und wäre es zum Preis einiger kleiner Konzessionen. In diesem Augenblick bewunderte Edouard seinen Vater. Dennoch hatte alles seine Grenzen, und dass Monsieur Ladmiral gerade behauptet hatte, Irène verfüge über großes Urteilsvermögen, das war doch wirklich …
»Aber ja, natürlich«, sagte Edouard. »Irène wirkt manchmal so … ein wenig …« – er hatte sich nicht zurückhalten können, fing sich aber alsbald wieder –, »aber was ihr Urteilsvermögen, da, ja, da hat sie …«
Er fühlte, wie sein Mund schmerzte, weil er diese Worte ausgesprochen hatte. Er griff sich in den Bart, zupfte an ihm herum, um an etwas anderes zu denken. Irène und Urteilsvermögen! Nein, also wirklich … Er musste trotzdem etwas tun, wenigstens etwas sagen … So konnte man nicht verbleiben. Edouard riss sich gehörig zusammen, um sich am Sprechen zu hindern; beinahe verspürte er das Verlangen zu weinen, eine Beklemmung wie bei Kindern, die die Ungerechtigkeit entdecken. Er selbst wunderte sich über eine so heftige Regung. Woher kam dieser Anflug von Zorn, diese Erregung, die ihm den Atem nahm? Vielleicht ein Überbleibsel dieser Angst von vorhin, angesichts der Vorstellung, dass sein Vater sterben würde, dass sein Vater bald sterben würde? Seine Hand peinigte seinen Bart so heftig, dass die harten Barthaare knirschten.
Marie-Thérèse, die an Monsieur Ladmirals anderer Seite saß, hörte dieses Bartgeräusch, das ihr sehr vertraut war. Sie hatte nichts gesagt, als man von Irène gesprochen hatte; sie mischte sich niemals in diese Unterhaltung ein. Sie hatte ihre eigene Meinung über ihre Schwägerin – unnötig, die Dinge zuzuspitzen. Aber dieses Bartgeräusch beunruhigte sie. Sie sah ihren Mann an; er sah sie an, und alles war gelöst. Zwischen ihnen herrschte ein perfektes physisches Einvernehmen, und ein gut gezielter und wahrgenommener Blick genügte, um es herzustellen. Darin lag Marie-Thérèses Kraft, die Monsieur Ladmiral nie hatte begreifen können, die niemand begriff außer ihr Ehemann. Edouard kam sofort zur Ruhe, wurde wiederhergestellt und freigesprochen. Nein, dachte er, ich bin kein Rohling. Ich verehre meine Frau. Wovor sollte ich Angst haben? Und hinter all dem wuchs diese starke und beruhigende Vorstellung, dass sein Vater nicht sterben würde. Edouard war gerettet; er ließ seinen Bart los.
»Übrigens«, sagte Monsieur Ladmiral, denn all das hatte sich binnen kürzester Zeit abgespielt, »es ist wie mit deinem Bart. Du trägst ihn wie der gute Alte, der dein Vater ist – kein Wunder, wenn du ebenso veraltete Vorstellungen hast wie er.«
»Edouard ist ganz Ihr Ebenbild«, sagte Marie-Thérèse, die glaubte, das Richtige zu tun.
Es entstand ein kurzes Schweigen, das Marie-Thérèse nicht genau verstand. Monsieur Ladmiral, der an seine Tochter dachte, spürte dieses Schweigen und litt. Sehr schnell fuhr er fort:
»Apropos Abbild: Vor nicht langer Zeit habe ich – wo, weiß ich nicht mehr – etwas sehr Seltsames über die Porträts von Eugène Carrière gelesen. Auf seinen ersten Porträts …«
Er sprach noch, als die kleine Mireille wieder zu ihnen kam. Sie lief in der Sonne, schlenkerte mit den Armen und den Beinen, und ihre schwarzen Haare bedeckten ihr
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