Ein Sonntag auf dem Lande
gefallen?«, fragte sein Großvater.
»O ja! Und übrigens sagt man ja, Großpapa, dass man dabei alles doppelt sieht, aber das stimmt nicht. Ich habe gar nichts mehr gesehen, nichts einfach und nichts doppelt. Bist du schon mal betrunken gewesen, Großpapa?«
»Mein Gott«, sagte Monsieur Ladmiral lächelnd, »das ist sehr lange her …«
»Da hätte ich dich sehen wollen«, sagte Emile mit einem breiten Grinsen. »Und Papa, ist der auch mal betrunken gewesen?«
»Frag ihn«, sagte Monsieur Ladmiral.
»Er sagt Nein.«
»Dein Vater ist ein sehr ernsthafter Mann«, sagte Monsieur Ladmiral mit einem so ironischen Ton, dass es Edouard einen Stich versetzte und ihn die Vorstellung verdross, dass seine Kinder das sicher bemerkt hatten. Er wollte gerade den Mund aufmachen, um die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken, als Lucien einhakte:
»Neulich auf dem Gymnasium hat der Lehrer gefragt, ob man gern in früheren Zeiten gelebt hätte. Einer hat Ja gesagt, und als der Lehrer ihn gefragt hat, warum, hat er gesagt: ›Um ein Helote zu sein, weil man die bezahlt hat, damit sie trinken, um die Kinder davor zu warnen.‹«
Edouard war empört. Er musste so schnell wie möglich eingreifen, ehe Marie-Thérèse Zeit fände, danach zu fragen, was ein Helote sei.
»Wie intelligent!«, sagte er verkniffen. »Und was hat der Lehrer geantwortet?«
»Er hat sich schiefgelacht«, sagte Lucien.
Monsieur Ladmiral lachte aus vollem Herzen. Es verärgerte ihn nicht, dabei zuzusehen, wie sie ihren Vater ein wenig schockierten. Die Jugend hat unzweifelhaft Vorzüge. Monsieur Ladmiral füllte die Gläser der beiden Jungen noch einmal mit Wein. Sie tranken sie in einem Zug aus und so schnell, dass man es ein Kunststück hätte nennen können. Emile gab darauf ein lautes Zeichen von Befriedigung zum Besten; Lucien verschluckte sich und begann, die Augen voller Tränen, zu husten.
»Sie machen sie krank!«, rief Marie-Thérèse.
»Bonum vinum«, sagte der Großvater, »bonum vinum …«
Und er versuchte mit seinem Sohn eine kleine Diskussion darüber zu beginnen, ob es laetificat cor humanum oder laetificat cor hominum hieß. Edouards Beiträge in Gesprächen solcher Art waren mäßig ergiebig, und es war ihm immer unangenehm, wenn man vor seiner Frau von Dingen sprach, die sie nicht interessierten. Emile, der glaubte, in Latein Bescheid zu wissen und allmählich ein wenig zu viel getrunken hatte, mischte sich in das Gespräch mit so durchdringender Stimme, dass man ihn zum Schweigen bringen musste. Er gab nach, denn er hatte gespürt, dass es seinem Großvater gefallen hatte, dass er sich für eine derart gelehrte Debatte interessierte, und zog es nun vor, an diesem Vorteil festzuhalten, der ihm noch mal Wein einbringen würde, bevor das Essen zu Ende war. Diese Klugheit zahlte sich aus. Emile trank noch Wein zum Käse, wobei ihm das diesmal weniger Vergnügen bereitete, weil ihm bereits schwindelte. Sein Gesicht glühte, und er ekelte sich vor dem Essen; er musste sich anstrengen, das letzte Glas auszutrinken, aber er schaffte es tapfer.
Wie es Brauch war, nahm man den Kaffee im Garten, in einer ausgesprochen klassisch gebauten, aber behaglichen Laube. Die Kinder hatten die Erlaubnis bekommen, auf der Wiese, die sich an den Garten anschloss, zu spielen, einer schönen Wiese mit fettem Gras und stämmigen, krumm gewachsenen Apfelbäumen. Offen gesagt, hatte man ihnen weniger die Erlaubnis als den Befehl dazu gegeben. Sie selbst hatten keine Lust, in der Wiese zu spielen; sie wollten nichts mehr, als im Haus zu bleiben und zu schlafen. Was soll’s, so schliefen sie eben in der Wiese.
In der Laube nippten Monsieur Ladmiral und sein Sohn an ihren kleinen Gläsern Schnaps. Marie-Thérèse, deren Gesicht leicht gerötet war und glänzte, strickte mit unglaublicher Geschwindigkeit an einem Strumpf. Die Metallnadeln funkelten ab und zu in den Sonnenstrahlen, die sich beiläufig ausbreiteten, und Monsieur Ladmiral dachte zärtlich, dass die junge Frau Hände voller Sterne hatte. Diese Vorstellung belebte ihn ein wenig, er lächelte. Die Lichtspiele unter dem Blätterwerk der Laube bezauberten ihn, tauchten ihn in eine Art beruhigenden Rausch. So schön war dieses Licht des Sommers, dieser trockene Beschlag von strahlenden Farben im ganzen Garten, waren die Grün- und Rottöne, das Gold und die Sonne, die wie eine Flüssigkeit oder wie ein Puder war, der die Farben nicht verschlang … nein, alles ist falsch, was man
Weitere Kostenlose Bücher