Ein Spiel um Macht und Liebe
Frieden besser als Krieg ist, daß man besser seine andere Wange hinhält, als jemandem das Genick zu brechen.«
Sie strich Salbe auf einen Kratzer, der sich vom Schlüsselbein bis zu den Rippen zog. »Aber auch wenn ich nicht besonders stolz darauf bin, es zuzugeben, denke ich, daß ich gewalttätig werden könnte, wenn es um die Personen geht, die mir etwas bedeuten. Zum Beispiel, wenn irgendein Bösewicht in meine Schule käme und die Kinder bedrohen würde.« Oder wenn jemand Nicholas etwas antun wollte, huschte es durch ihre Gedanken.
Sie ging zurück zum Tablett, um das Verbandszeug zu holen. »Ich werde die schlimmsten Wunden hiermit abdecken.« Sie verband sein Handgelenk, dann begann sie, einen langen Musselinstreifen um seine Brust zu winden.
»Wie küßt Lucien?« Seine beiläufige Frage hätte sie fast umgeworfen.
»Was?« Sie war so verblüfft, daß sie fast den Verband hätte fallen lassen. »Oh, stimmt ja, er hat mich geküßt, als Napoleons Abdankung verkündet wurde. Es war ein recht netter Kuß, denke ich – ich habe nicht sehr darauf geachtet.«
Sie schlang das lose Ende unter seinem Arm durch und verknotete es auf seiner Schulter. Der Stoff wirkte sehr weiß auf seiner dunklen Haut.
»Er war nicht Sie.«
»Das nächste Mal, wenn Lucien ein wenig zurechtgestutzt werden muß, dann sage ich ihm, wie desinteressiert Sie waren.«
»Aber Sie würden doch nicht…« Sie sah ihn unsicher an. »Ach, Sie machen Witze.«
»Natürlich. Albernheit ist meine starke Seite.«
Nicholas trat einen Schritt von ihr weg und rollte seine Schulter, um festzustellen, wie weh sie tat.
»Wie kommen Sie darauf, daß Lucien eine rücksichtslose Ader haben könnte? Sie haben recht, aber es überrascht mich doch, daß Sie es herausgefunden haben, nachdem Sie ihn nur ein paarmal gesehen haben. Und bei diesen Gelegenheiten hat er sich von seiner besten Seite gezeigt.«
Sie ordnete Verband und Salben auf dem Tablett.
»Das ist nur so ein Gefühl. Obwohl er den Müßiggänger recht gut spielt, hat er irgend etwas an sich, was mich an polierten Stahl erinnert.«
Sie lächelte. »Er war ein wenig schockiert, als ich die Vermutung äußerte, daß seine Arbeit in Whitehall das Sammeln von Informationen beinhaltet.«
»Lieber Himmel, das haben Sie herausgefunden?
Sie sollten sich selbst als Spionin einstellen lassen.« Nicholas trank sein Glas aus und warf dann der Karaffe einen abschätzenden Blick zu.
»Nehmen Sie etwas Laudanum«, schlug sie vor.
»Das hilft schneller und auf sanftere Art, als wenn Sie versuchen, den Schmerz durch Alkohol zu betäuben.«
»Ich brauche weder das eine noch das andere.«
Seine Lippen preßten sich zusammen, und er stellte das leere Glas ab. »Vielen Dank, daß Sie mich zusammengeflickt haben. Es tut mir leid, daß Ihr erster Ball so enden mußte.«
»Nun ja, es war gewiß ein unvergeßliches Erlebnis.« Sie nahm das Tablett und ging auf die Tür zu.
»Clare. Bitte, gehen Sie noch nicht.« In seiner Stimme lag etwas seltsam Angespanntes. Sie drehte sich wieder um. »Ja?« Er starrte aus dem Fenster auf die ausgestorbene Straße hinunter.
Seine Atmung war zu schnell, und seine Hand krampfte sich um den Vorhang. Als er nichts sagte, fragte sie: »Wollten Sie noch etwas?« Er sprach, als müßte er sich jedes einzelne Wort mühsam abringen. »Clare, würden Sie . würden Sie diese Nacht bei mir bleiben?«
»Sie wollen, daß ich mit Ihnen schlafe?« fragte sie dümmlich. Seine Frage überraschte sie noch mehr als seine vorherige, als es um Luciens harmlosen Kuß gegangen war.
Er drehte sich um, und das Geräusch seines rauhen Atems erfüllte das Zimmer. Erst jetzt bemerkte sie, daß er ihr zum ersten Mal, seit sie Lord Michael getroffen hatten, in die Augen sah, und sie war schockiert, welche Qual in seinem Blick lag.
Ganz plötzlich begriff sie, was sie schon vorher hätte merken müssen. Seine Gelassenheit war nur gespielt gewesen. Und sie, die sich für so aufmerksam und mitfühlend hielt, hatte nicht verstanden, was seine uncharakteristische Beschäftigung mit irgendwelchen Dingen und seine Weigerung, sie direkt anzusehen, bedeutete.
Nun war seine mühsam aufrechterhaltene Fassade zusammengebrochen und enthüllte, welcher Kummer darunterlag. Sein Anblick tat ihrem Herzen weh; sie hatte zwar geahnt, wie bitter es für einen Mann, der an Freundschaft glaubte, sein mußte, von einem engen Freund zurückgewiesen zu werden, doch es war noch weit schlimmer, als sie sich
Weitere Kostenlose Bücher