Ein Spiel um Macht und Liebe
schwang quietschend auf.
Clares Finger krampften sich so fest um Nicholas’
Hand, daß sie ihm vermutlich das Blut abschnürte. Instinktiv wußte sie, daß einer der Fremden nur zwei Fuß von ihren Köpfen entfernt in den Wagen spähte.
Das Kind auf ihnen begann plötzlich zu quieken.
»Penny! Penny!« forderte Yoyo.
Eine andere Stimme fragte auf englisch:
»Irgendwas drin?«
»Nur eine von diesen dreckigen Gören«, erwiderte die erste Stimme voller Verachtung. »Die müssen mit dem Drang zum Betteln auf die Welt kommen.«
Die Tür wurde zugeschlagen. Clare stieß den Atem aus, den sie unwillkürlich angehalten hatte.
Nicholas hatte schon gewußt, warum er bei seinem Volk Zuflucht gesucht hatte.
Sie mußten noch lange unter den sie beinahe erstickenden Schlafdecken warten. Yoyo krabbelte bald auf der Suche nach unterhaltsameren Dingen von ihnen herunter, aber sie blieben liegen, bis eine männliche Stimme erklang: »Du kannst jetzt rauskommen, Nikki. Vielleicht solltet ihr auf den Straßen im Wagen bleiben, aber ich denke, ich seid nicht mehr in Gefahr.«
Nicholas schob die Decken beiseite, und sie setzten sich beide erleichtert auf. Der gutaussehende, stämmige Köre, Anis Ehemann und der Anführer der Gruppe, saß lässig draußen auf der Plattform. Nicholas stellte ihm sofort die Frage, die ihm auf dem Herzen lag. »War einer der Männer der, den ich euch beschrieben habe?«
Köre schüttelte den Kopf. »Es waren vier, aber keiner sah aus wie der, von dem du gesprochen hast.« Er zeigte ihnen einen Steinkrug. »Die Jungs, die bei der Hütte waren, sind zurück. Viel haben sie nicht gefunden. Eure Sachen sind alle verbrannt, die Pferde fort. In der Umgebung lagen dieser Whiskeykrug und das.« Er reichte Nicholas ein silbernes Kästchen.
Clares Herz krampfte sich zusammen, als sie erkannte, daß es sich um ein Kartenetui handelte, wie es ein Gentleman bei sich trug. Mit steinerner Miene öffnete Nicholas es. Die Karten waren feucht, die Schrift darauf aber noch deutlich lesbar.
Lord Michael Kenyon.
Als Köre Nicholas’ Gesichtsausdruck sah, wandte er sich höflich ab und sprang vom Wagen.
»Es tut mir leid, Nicholas«, flüsterte Clare.
Seine Hand ballte sich zur Faust, und das Kästchen klappte zu. »Aber es ergibt keinen Sinn«, sagte er, und seine Stimme verriet seine furchtbare Seelenpein. »Selbst wenn man davon ausgeht, daß Michael wahnsinnig geworden ist und beschlossen hat, mich umzubringen, warum hier in den Bergen? Warum sollte er Männer für etwas anheuern, was er bestens ohne Hilfe tun könnte? Und wenn er mich suchen würde, dann wüßte er doch, daß er in einer Kumpania gründlicher nach mir sehen müßte.«
»Aber er war nicht bei seinen Leuten – vielleicht wollte er sichergehen, daß niemand ihn verdächtigen kann«, argumentierte sie ruhig. »So weit von Penreith entfernt wäre man der Sache vielleicht gar nicht nachgegangen, sondern hätte einfach angenommen, daß wir versehentlich bei einem Brand umgekommen sind. Und wenn es eine Untersuchung gegeben hätte, wäre man letztendlich sicher zu dem Schluß gekommen, daß Banditen das Feuer gelegt haben.« Sie zögerte und setzte schließlich hinzu: »Vielleicht ergibt es keinen Sinn, aber es ist ja auch nicht unwahrscheinlich, daß sein Verstand gelitten hat.«
Ja, das war alles höchst plausibel. Aber als Clare seine Hand nahm, wünschte sie innig, daß sie sich irrte.
Kapitel 30
OBWOHL SICH CLARE in einem Umkreis von nur sechzig Meilen von ihrem Zuhause entfernt befand, gab ihr das Reisen mit den Zigeunern das Gefühl, als wäre sie in einem fremden Land. Viele ihrer Bräuche waren britisch, und alle Mitglieder der Kumpania sprachen wenigstens ein bißchen Englisch oder Walisisch. Doch in vieler Hinsicht waren die Roma vollkommen anders. Als Nicholas’
Frau hatte sie die Chance, sie so zu erleben, wie es nur wenigen Gadsche zugestanden wurde, denn sie akzeptierten sie mit einer so bezaubernden Zwanglosigkeit, als wäre sie ein Kätzchen, das sich zu ihnen verirrt hatte. Wenn sie auch nicht alle Aspekte ihrer Lebensart gutheißen konnte, so war sie dennoch nicht in der Lage, sich ihrer Herzlichkeit und dem Charme ihrer sprühenden Lebendigkeit zu entziehen.
Die Roma kennenzulernen, half ihr, Nicholas zu verstehen. Ihre Fähigkeit, im Augenblick zu leben, als gäbe es weder Vergangenheit noch Zukunft; ihr fröhlich-unbekümmerter Fatalismus; die Vielfalt ihrer anmutigen Gestik – all diese Züge waren ein Teil des
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