Ein Spiel um Macht und Liebe
überlegte, was er spielen sollte, glitten seine Finger sanft über die Saiten und stimmten sie. Dann begann er eine lange Roma-Ballade zu singen, die aus all den Freuden und Leiden seines wandernden Volkes gewoben zu sein schien. Clare saß mit geschlossenen Augen hinter ihm und genoß die Schönheit seiner tiefen, vollen Stimme. Am Schluß sang er eine Strophe, die er für sie übersetzte:
Weltliche Güter besitzen und vernichten dich.
Die Liebe muß frei sein wie der Wind.
Sperr den Wind in vier Wänden ein.
Er wird sterben.
Offene Zelte, offene Herzen,
Laß den Wind frei…
Die Worte drangen Clare tief ins Herz. Sie glaubte zwar nicht, daß diese Verse als Botschaft an sie gedacht waren, aber dennoch verstand sie in diesem Moment etwas Wesentliches: Wenn sie Nicholas halten wollte, dann bedeutete es, daß sie es niemals versuchen durfte. Die Liebe muß frei sein wie der Wind .
Schließlich zogen sie sich alle zurück, und sie gingen zu der Schlafstelle, die man ihnen in einigem Abstand von den anderen bereitet hatte.
Unter der Wärme der Dunhas liebten sie sich heftig und voller Intensität. Das Verlangen war durch ihren Paarungstanz angestachelt worden, und das Schweigen, mit dem sie nun
zusammenkamen, steigerte es zu fiebrigen Höhen.
Weil sie ihm ihre Liebe nicht mit Worten mitteilen durfte, ließ Clare ihren Körper für sich sprechen.
Später, als er schon eingeschlafen war, liebkoste sie sein dichtes, schwarzes Haar und dachte darüber nach, was für einen erstaunlichen Mann sie geheiratet hatte. Er war ein Zigeuner, ein Waliser, ein Adeliger, ein Barde – er war alles und noch viel mehr. Und sie wußte, sie würde ihn lieben, bis sie starb.
Am nächsten Morgen fühlte Clare sich ein wenig schwach. Sie hatte sich am Abend zuvor für ihre Verhältnisse höchst ausschweifend benommen: Sie hatte zuviel gegessen, zuviel getrunken, zu lange getanzt und zu heftig Liebe gemacht.
Letzteres im übrigen mehr als einmal. John Wesley hätte dies wahrscheinlich nicht gebilligt, aber da Clare inzwischen ihr eigenes spirituelles Gleichgewicht gefunden hatte, hielt sie eine kurze Zwiesprache mit dem Herrn und kam zu dem Schluß, daß Er nichts dagegen hatte, da ihre Leidenschaft der Liebe entsprungen war. Trotz allem waren die leichten Kopfschmerzen eine gute Erinnerung daran, daß ein wenig Maßhalten ihr besser bekam.
Als die Kumpania ihren Lagerplatz abbrach, gesellte sich die alte Keja plötzlich zu ihr. »Ich muß mit dir sprechen. Heute fährst du in meinem Wagen.«
Clare nahm gerne an. Obwohl sie bisher kaum ein Wort mit Keja gewechselt hatte, wußte sie doch, daß die Frau sie oft betrachtete. Keja hatte genug Einfluß, um den Wagen für sie beide allein zu beanspruchen, so daß sie sich unter vier Augen unterhalten konnten.
Doch zunächst starrte Keja Clare einfach nur eine ganze Weile an, wobei sie ihre Pfeife paffte.
Plötzlich sagte sie: »Ich bin eine Cousine des Vaters von Marta, Nikkis Mutter.«
Clare wartete gespannt auf das, was jetzt kommen würde. Also war Keja eine nahe Verwandte von Nicholas, und Clare hatte endlich die Chance, mehr zu erfahren. »Warum hat Marta ihren Sohn verkauft? Für Nicholas war dieses Wissen immer schrecklich.«
»Marta litt an einer schweren Lungenkrankheit«, erwiderte Keja mit gleicher Offenheit. »Sie hätte ihren Sohn bei uns lassen sollen, aber sie hatte ihrem Mann versprochen, daß der Junge die Chance bekommen würde, das Leben der Gadsche kennenzulernen.« Die alte Frau schnitt ein Gesicht. »Und weil Kenrick es so gewollt hatte und Marta genau wußte, daß sie bald nicht mehr für Nikki würde sorgen können, brachte sie ihn zu seinen Großeltem, die ja seine nächsten Verwandten waren.«
»Die Tatsache, daß sie ihn für hundert Goldguineas verkauft hat, läßt mich sehr daran zweifeln, daß sie es aus Selbstlosigkeit getan haben soll«, bemerkte Clare mit harter Stimme.
»Wie kann eine Frau nur ihr eigenes Kind verschachern?«
»Der alte Gadscho hat ihr das Geld von sich aus angeboten«, antwortete Keja verächtlich. »Marta hätte ihm fast ins Gesicht gespuckt, aber sie war auch eine Roma – wenn der Gadscho ein Narr sein wollte, dann hatte sie bestimmt nicht die Absicht, ihn zu belehren.«
Clare dachte an all das, was sie über die Roma erfahren hatte, und zögerte einen Augenblick.
»Mit anderen Worten – das waren also zwei verschiedene Angelegenheiten. Sie brachte Nicholas wegen ihres Versprechens an Kenrick zu seinen Großeltern,
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