Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
erwiderte sie. Er nickte, worauf sie maliziös erwiderte: »Nein, daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern.«
Er lächelte anerkennend. »Sehr witzig. Falls Sie jemals schwere Zeiten durchstehen müssen, können Sie sich immer noch als Hofnarr verdingen.«
»Marcus, was ist mit der Übung?«, fragte sie. Er musste bemerkt haben, wie müde sie war, denn er griff nach dem Umhang, der auf dem Sessel vor dem Kamin lag, legte ihn ihr um die Schultern und bat sie, sich zu setzen.
»Es tut mir leid, Sie sind erschöpft. Ich beeile mich auch.« Rasch zog er den klapprigen Stuhl vom Sekretär zu sich heran und ließ sich darauf nieder.
»Ich habe versucht, mir den Grundriss dieses Anwesens so gut wie möglich einzuprägen. Aber es ist riesig, und es gibt hunderttausend Dinge, hinter denen unser Feind her sein könnte. Und genauso viele Verstecke gibt es auch. Ich bin also darauf angewiesen, dass Sie die Augen offen halten.«
»Wonach? Nach Laurent?«
»Ich möchte, dass Sie auf dem Laufenden sind, wer sich hier aufhält und wer diese Leute sind. Sobald Sie jemanden bemerken, den Sie nicht kennen, kommen Sie zu mir und erstatten mir Bericht. Und falls morgen Abend bei den Festivitäten jemand fehlt, von dem Sie meinen, dass er dort sein sollte, muss ich es ebenfalls wissen.«
Eine echte Herausforderung, dachte Phillippa und schluckte nervös, fast schon entmutigend. »Aber was, wenn ich jemanden oder etwas verpasse? Ich bin nicht so professionell wie Sie … «
Marcus brachte sie mit einem trockenen Lächeln zum Schweigen und schüttelte den Kopf. »Sie haben ein Gedächtnis, das stark ist wie ein Netz aus Stahlfäden, wenn es Ihnen in den Kram passt.«
»Könnten wir nicht … könnten wir nicht Ihren Bruder überzeugen, uns zu unterstützen? Sie sagten doch, dass er über Sie Bescheid weiß.«
Marcus blickte sie eine Sekunde lang schief an. »Natürlich wird mein Bruder uns … unterstützen. Ich kann nur nicht sagen, wie sehr.«
»Wegen … seines Beins?«, fragte sie und versuchte zu erraten, was ihm durch den Kopf ging. Aus irgendeinem Grund schien Marcus wegen Byrne besorgt; Phillippa hatte allerdings ihre Zweifel, dass es dabei nur um dessen körperlichen Zustand ging.
Aber Marcus nutzte die Gelegenheit, die sie ihm bot. »Ja, wegen seines Beins. Die Verletzung hat er sich zugezogen, als er Blue Raven auf dem Kontinent geholfen hat. Er ist … noch nicht ganz genesen.«
»Entschuldigung, ich wollte nicht neugierig sein … «, sagte Phillippa.
»Das sind Sie aber«, konterte Marcus, doch sein Lächeln sagte ihr, dass sie weitersprechen solle.
»Ihr Bruder … er sieht aus wie … «
»Mehr tot als lebendig?«
»Nicht gesund«, schlug sie diplomatisch vor. »Es wäre bestimmt klug, ihm seine Ruhe zu lassen. Ist er schon bei einem Arzt gewesen?«
Marcus brach in schallendes Lachen aus, sodass Phillippa sich nach vorn beugte und ihm ein »Schscht« zuzischte.
»Ja, er ist schon bei Ärzten gewesen. Ja, er sollte sich ausruhen, wenn er gesund werden will. Aber er weigert sich. Und es wäre mir auch lieber, wenn er sich nicht persönlich in der Stadt aufhielte. Davon abgesehen weiß er, dass ich ihn niemals aufhalten könnte. Oder beschützen.«
Während dieses Eingeständnisses barg Marcus das Gesicht in den Händen, und zum ersten Mal erkannte Phillippa, dass auch er erschöpft war.
Nicht nur wegen des heutigen Abends und weil er nicht geschlafen hatte, sondern wegen der Aufgabe, vor der er sich sah. Wegen der Anstrengung, ein Leben im Geheimen zu führen, wegen der Unruhe, die das für alle um ihn herum mit sich brachte.
Vorsichtig streckte sie die Hand aus und strich ihm über den Kopf. Es war eine Geste des Trostes, der Unterstützung. Er schmiegte sich in ihre Hand und nahm ihre zärtliche Geste an; ihre Stirn berührte seine.
Er hob den Kopf, und sein Blick traf ihren.
Da war sie wieder. Diese Hitze. Die sie beide gefangen nahm, eine Minute lang, hundert Jahre lang.
Und dann beugte sich Marcus vor, sein Atem strich ihr warm über die Wange. Unwillkürlich benetzte Phillippa sich die Lippen. Sie sah, dass seine Augen dunkel wurden, als sein Blick der Bewegung ihrer Zunge folgte.
Und wenn er sich noch ein winziges Stück weiter nach vorn beugen würde – Phillippa würde ihn nicht hindern.
Aber er tat es nicht.
Marcus zog sich zurück, zuerst kaum merklich, sodass sie noch ganz in seinem Bann war, als er mit leiser und heiserer Stimme sprach.
»Phillippa, ich … «
»Ja«, sagte sie,
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