Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
wirkte der Saal beinahe mittelalterlich, wenn auch nicht in seiner Ausstattung: eine große Halle, bestückt mit Reihen langer Tische aus poliertem Kirschholz; Kerzen in silbernen Kandelabern, die zwischen meterlang aneinandergereihten leeren Tabletts aus Silber standen und Licht spendeten. Von den Speisen war weit und breit noch nichts zu sehen. Unnötig zu sagen, dass die angespannte Erwartung den gemeinschaftlichen Magen der Meute nur noch lauter knurren ließ.
Auf einer Estrade am anderen Ende des Saales standen Lord Whitford, seine so überaus patriotische Ehefrau Lady Whitford (der es irgendwie gelungen war, den Stoff ihres Kleides in so viele Kräusel und Falten zu legen, dass sie wie die geflügelte Siegesgöttin ohne Flügel aussah) und Marcel, der temperamentvolle Küchenchef, der das gesamte Bankett kreiert hatte.
»Seine Laune scheint sich gebessert zu haben, seit er das letzte Mal gesehen wurde«, bemerkte Marcus.
Lächelnd beugte Phillippa sich zu Marcus’ Ohr. Anders konnten sie einander in dem Gedränge nicht verstehen. »Nun, als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben, war er ein Despot, der seine Küche mit eiserner Faust regiert. Jetzt ist er der Diplomat, der gefeiert werden soll. Mit all dem Lächeln und der Würde, die dazugehören.«
Der drahtige Küchenchef, in dessen würdevoller, ernster Miene sich die Anstrengung seiner Arbeit oder die Freude über die zu erwartenden Lobeshymnen kaum widerspiegelten, stand in makelloser weißer Jacke und Mütze auf der Estrade, reckte die Nase hoch in die Luft und hielt die Arme auf dem Rücken verschränkt. Sobald alle Gäste im Saal waren, erstarb das Stimmengemurmel, und Lord Whitford wandte sich an seine Gäste.
»Ladys und Gentlemen, liebe Freunde. Danke, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren, und danke für Ihre Geduld. Marcel, wenn Sie bitte die Güte hätten.«
Marcel verbeugte sich zackig vor Lord Whitford und schlug dabei tatsächlich die Hacken zusammen. Auf seinen leisesten Wink hin öffneten die Hausdiener die Doppeltüren, die rund um den Saal angeordnet waren, und Dutzende Lakaien und Küchenjungen trugen auf den Schultern üppig beladene Tabletts herein.
Das Publikum schnappte unisono nach Luft, Applaus brandete auf, und wie auf Kommando fingen alle an, sich zu unterhalten.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Marcus spürte es ganz deutlich. Während die versammelten Gäste sich in begeistertem Lob über die Consommé mit gezupftem Schweinefleisch und die Süßspeise aus Biskuit und Englischer Creme ergingen, sträubten sich ihm die Nackenhaare. Irgendetwas … stimmte ganz und gar nicht. War nicht in Ordnung.
Und Phillippa spürte es ebenfalls.
»Was ist los?«, fragte sie. Die Sorge stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Es ist nur so ein Gefühl. Vielleicht ist aber auch gar nichts«, erwiderte er knapp, während er den Blick durch den Saal schweifen ließ, über die Teller und Tabletts, über die lärmende Menge um sie herum – bis er spürte, dass Phillippa sich anspannte.
Dass sie Angst hatte, konnte er nicht gebrauchen.
»Würden Sie mir einen großen Gefallen tun, Mrs. Benning?«, bat er, und als sie schweigend nickte: »Plaudern Sie einfach über irgendetwas.«
»Plaudern?«, hakte sie verunsichert nach.
»Ja. Ich muss mich umsehen, will aber nicht, dass es auffällt. Es soll so wirken, als würden wir uns unterhalten.« Außerdem wäre sie beschäftigt, was sie hoffentlich beruhigen würde. Aber das behielt er lieber für sich.
»Hm, ja, also die Dekoration … nun, darüber haben wir schon ein paar Worte verloren. Ja, ich habe auch meine Zweifel, dass Wellington sich heute Abend zeigen wird. Dieser Tage ist er einfach noch gefragter als ich. Obwohl ich doch ein wenig erstaunt bin, dass unser Prinz nicht hier ist. Einen guten Bratapfel lässt er sich eigentlich niemals entgehen. Oh, und dann diese Brotpuddings, in siebzehn Variationen, haben Sie das gesehen? Ich persönlich bevorzuge ja die Pfirsichpastete, Totty allerdings eher den Likör. Der geschmorte Kalbsbraten sieht wundervoll aus, finden Sie nicht auch, genauso wie das Hummercurry. Oh, in der Tat, ich erinnere mich, dass Lord Sterling beinahe den gesamten Hummer selbst verzehrt hat. Man hofft, dass er dieses Jahr daran gedacht hat, sich ein Tuch in den Kragen zu stecken. Es war schlicht eine Katastrophe und hat ihn eine ganze Woche lang zum Deppen sämtlicher Witze über das Dinner gemacht … «
»Dieses Jahr?«, unterbrach Marcus, »Lord Sterling
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