Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
sein lädiertes Gesicht nicht sagen zu wollen. »Aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich um dieses Treffen gebeten habe.«
»Da ist noch mehr?«, merkte sie auf.
»Ich dachte, Sie wollen sich vielleicht einer körperlichen Ertüchtigung mit mir hingeben«, erklärte er und lächelte zum ersten Mal ohne Schmerzen.
»Einer Ertüchtigung?«, hakte sie zweifelnd nach. »Mr. Worth, ich habe mich nicht mehr körperlich ertüchtigt, seit diese ausgesprochen sadistische Gouvernante dachte, Schwimmen sei gesund für junge Mädchen.«
»Schwimmen?«
»Es war entsetzlich. Sie hat mich im Kreis schwimmen lassen, bis mir die Arme wehgetan haben. Ich bin so braun geworden, und mein Haar war so zersaust, dass auch meiner Mutter mein Zustand aufgefallen ist und sie die Frau auf der Stelle entlassen hat.« Phillippa grinste. »Nun, welchen qualvollen Ertüchtigungen wollen Sie mich denn aussetzen?«
»Nichts, was so entsetzlich wäre wie Schwimmen«, versprach er. »Möchten Sie sich vielleicht setzen?« Er begleitete sie zu einer schmiedeeisernen Bank in der Nähe, von der aus man eine Fußgängerbrücke im Blick hatte, die von Weidenbäumen gesäumt wurde. Die Sonne stieg höher, ließ den Tau verschwinden und brachte die Lilien dazu, ihre Knospen zu öffnen, die sich zu den wärmenden Sonnenstrahlen drehten.
»Ich habe mich gefragt«, fing Marcus an und manövrierte seine lange Gestalt auf die kurze Bank, wobei er die Ellbogen auf die Knie stützte, »wie gut eigentlich Ihre Augen sind.«
»Meine Augen?«, fragte sie. »Die sind sehr gut. Ich habe nie eine Brille gebraucht wie manch andere, die ich nennen könnte.«
»Ja, ja, Ihre Augen an sich sind perfekt«, erwiderte er, »aber ich wollte wissen, wie gut Sie sich an das erinnern können, was Sie gesehen haben.«
»Ich erinnere mich an alles«, behauptete sie, und als sie seinen unausgesprochenen Zweifel bemerkte, fügte sie hinzu: »Ich prahle nicht. Es ist die Wahrheit.«
»Treten Sie den Beweis an«, verlangte er und bedeckte ihre Augen mit seiner großen, warmen Hand. »Sagen Sie mir, was Sie sehen.«
»Ich sehe das Innere Ihrer Hand, Sie verdammter Kerl.«
Lachend zog er die Hand zurück. »Gut, dann versuchen wir es so. Blicken Sie zehn Sekunden lang auf den See. Dann schließen Sie die Augen und zählen jeden Menschen auf, den Sie sehen.«
»Aber es ist erst zehn Uhr morgens!«, protestierte sie, »es ist niemand auf den Beinen, den ich kenne. Alle diese Menschen sind mir unbekannt … «
»Genau deshalb habe ich eine solch abscheuliche Stunde ausgesucht. Sie müssen die Leute ja nicht beim Namen nennen, sondern nur beschreiben.« Er versuchte, sie mit einem sanften Singsang in der Stimme zu überreden.
Da sie ja ohnehin schon wach war und sich im Park befand und die ganze Sache keine zehn Sekunden dauern würde, beschloss Phillippa, ihm den Gefallen zu tun.
Normalerweise versuchte sie nie, sich Dinge zu merken, sondern tat es einfach. Alles, was ihr mehr als ein Mal gesagt wurde – oder auch ein Mantel, den jemand getragen hatte – , schoss ihr plötzlich genau so wieder ins Gedächtnis, wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Und ausnahmslos jedes Mal behielt sie recht. Aber jetzt konzentrierte sie sich. Sie beobachtete junge Ladys, die, dem Anblick ihrer sauberen Popelinekleider nach zu urteilen, der Mittelklasse entstammten und Körbe mit Waren vom Markt hinter ihren Müttern hertrugen. Sie beobachtete junge Männer, die offenbar über gewisse finanzielle Mittel verfügten und ihre morgendlichen Ausritte pflegten, bevor die Stunde schlug, zu der der Serpentine in seiner ganzen Länge in Beschlag genommen wurde; und sie beobachtete einen alten Mann, der mit einer Pfeife im Mund am Wasser saß und Zeitung las.
»Zehn Sekunden«, verkündete Marcus, unterbrach ihre Konzentration und verdeckte ihr prompt mit der Hand die Augen.
»Los«, sagte er so nahe an Phillippas Ohr, dass er seine Worte nur zu hauchen brauchte. »Verraten Sie mir doch, wie viele Menschen haben Sie gesehen?«
»Vierzehn«, erwiderte sie auf Anhieb.
Überrascht über ihre schnelle Antwort, hielt Marcus kurz inne; höchstwahrscheinlich zählte er nach. (Phillippa konnte sich nicht ganz sicher sein, da ihre Augen ja verdeckt waren.) »Nein, es sind dreizehn«, widersprach er.
»Falsch, es sind vierzehn.«
»Vierzehn. Beschreiben Sie sie mir.«
»Zwei junge Männer zu Pferde, wenn sie inzwischen auch außer Sicht sein mögen. Sieben Sekunden lang in meiner
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