Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
hatte er ihn aufs Neue in die Richtung gelenkt, in der der Mann mit dem Spazierstock gestanden hatte – mit zusammengekniffenen Brauen und die Fäuste in die Hüften gestemmt.
Aber der Mann mit dem Stock war verschwunden. Es war niemand mehr dort.
16
Marcus entschied sich für den langen Weg vom Park nach Hause, für den er den größten Teil des Tages brauchen würde und der die Stadt in zwei Teile schnitt. Er schweifte umher, spazierte hierhin und dorthin und erledigte Besorgungen bei seinem Stiefelmacher und bei seiner Bank. Er blieb bei einem Obst- und Gemüsehändler stehen und erstand drei Orangen, was ihm, weil er wie ein Gentleman aussah, misstrauische Blicke bescheidener gekleideter Passanten eintrug. Es kam nur selten vor, dass ein Gentleman seine Orangen selbst einkaufte.
Aber die kleine Besorgung erlaubte es ihm, eine Pause einzulegen – nicht nur ihm, sondern auch denen, die sich eventuell an seine Fersen geheftet hatten. Marcus zwang sich zu einem vernünftigen Tempo und mied Nebenstraßen und enge Gassen, in denen er mögliche Verfolger in die Irre hätte führen können. Bislang war ihm allerdings nichts Ungewöhnliches aufgefallen, weder ein verstohlener Blick noch ein Schatten, der ihn verfolgte; aber seit dem Vormittag spürte er, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten. Seine Kopfhaut prickelte, und Marcus wusste – wusste es mit größter Gewissheit – , dass er beobachtet wurde.
Aber ob er nun unter Beobachtung stand oder nicht, ob man sich ihm an die Fersen geheftet hatte oder nicht – letztlich musste Marcus die unausweichlichen Schritte gehen, die ihn nach Hause führten.
Die Sonne stand tief am Himmel. Wohin auch immer ihre Strahlen fielen, alles war in einen messingfarbenen Glanz getaucht, der sich auf den Fenstern seiner Junggesellenwohnung widerspiegelte. Er stieg die Treppe zu der Pension (nur für Gentlemen) abseits des Leicester Square hinauf, in die er sich eingemietet hatte; er freute sich, der einzige Mieter im Erdgeschoss zu sein, auch wenn er dafür doppelte Miete zu zahlen hatte. Natürlich hätte er sich auch in ein Hotel einmieten und dessen Annehmlichkeiten einschließlich der Küche genießen können. Aber er mochte seine Unterkunft, denn sie bot ihm Rückzugsmöglichkeiten und erforderte nur geringe Schutzmaßnahmen.
Die Wohnung war bescheiden, besaß aber alles, was ein Junggeselle brauchte – ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer. Sie war bequem möbliert, und ein Mal wöchentlich kam eine Zugehfrau, die der Vermieter zur Reinigung des gesamten Hauses angeheuert hatte. Nachdem Marcus die Frau auf Herz und Nieren überprüft hatte, war er nur zu glücklich, sie überall Staub wischen zu lassen – allerdings nicht in seinem Arbeitszimmer, dessen Tür mit zwei Riegeln verschlossen war.
Oder jedenfalls verschlossen sein sollte.
Die Tür zum Arbeitszimmer war geschlossen. Alles sah so aus, wie es aussehen sollte. Außer dem Kippriegel am zweiten Schloss. Dieser Riegel war einen Bruchteil außerhalb seiner vertikalen Ausrichtung gerückt. Vorsichtig näherte Marcus sich der Tür, er trat sehr leise auf, da der Holzboden bei jedem Schritt unter seinem Gewicht knarzen konnte. Schon lag seine Hand auf dem Türknauf, drehte ihn …
Plötzlich sah er es … hinter sich.
Einen flüchtigen Schatten, ein Flimmern vor der Eingangstür seines Apartments.
So lautlos und flink wie eine Katze bei Nacht bewegte Marcus sich von der Tür des Arbeitszimmers durch den Korridor. Wieder bewegte sich der Schatten unter der Tür. Marcus tastete nach der Pistole, die er sich unter den Mantel geschnallt hatte.
In Gedanken zählte er bis drei … und riss die Tür auf.
»Oh, dem Himmel sei Dank, Mr. Worth, könnten Sie mir mit diesen Kisten helfen?«
Es ertönte die schilfige Stimme von Leslie Farmapple – Marcus jedenfalls nahm an, dass es sich um Leslie handeln müsse. Denn wegen der Kisten in seinen Armen, hinter denen er versteckt war und die gefährlich wankten, als er das Gleichgewicht verlagerte, war das unmöglich zu sagen.
»… sind Sie es?«
»Ja, Mr. Worth«, kam es gedämpft zurück, »bitte helfen Sie mir, wenn es Ihnen nichts ausmacht!«
»Ja, natürlich! Aber wofür all diese Kisten?«
»Das hier«, erklärte ein abgekämpfter und im Gesicht hochroter Leslie, als Marcus ihm die oberste Schachtel abnahm, »ist der Inhalt Ihres Schreibtisches. Mr. Crawley hatte festgestellt, dass der Tisch noch nicht geräumt worden war. Also hat Sterling darauf
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