Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
die lebenslustige und fröhliche Phillippa Benning einzuspannen!«
Marcus konnte seinem Bruder den Gewitterblick nicht vorwerfen. Es musste ein ziemlich ruppiges Erwachen gewesen sein, als er in seinem Cottage im Lake District, in das er sich verkrochen hatte, von Gerüchten gehört hatte, er würde sich in den Straßen rund um den Londoner Hafen herumtreiben.
Denn es verhielt sich tatsächlich so, dass ein Gerücht sich seinen Weg aus London gebahnt hatte und an jedes Ohr gedrungen war, das zuzuhören bereit gewesen war. Vielleicht war Johnny Dicks’ Tod der Auslöser gewesen. Vielleicht die schwarzen Federn, die es auf dem Bankett der Whitfords geregnet hatte. Vielleicht waren die blau-schwarzen Einladungen schuld, die Phillippa verschickt hatte und in denen sie versprach, dass auf dem Benning-Ball Intrigen, Ränkespiele und Geheimnisse aufgedeckt werden würden. Aber irgendwie schienen die Worte »Blue Raven« wie vom Wind getragen durch ganz England zu wehen.
Und Byrnes Miene – so blass, so sarkastisch und so abgrundtief müde er auch war – hatte sich vollends verfinstert, als das Gerücht seiner Auferstehung bei ihm angekommen war.
Ganz besonders war dies der Fall, wenn er darüber nachdachte, an welch dünnem Faden seine Existenz hing.
Byrne war nicht als der kecke junge Mann aus den Kriegen zurückgekehrt, als der er hineingezogen war. Marcus hatte die Veränderung bemerkt, als er nach der Ausheilung seiner Stichwunde zum Regiment zurückgekehrt war. Byrne war noch beschützender geworden. Oh, er lachte durchaus noch, besaß auch noch seine gewohnte Ausstrahlung; aber trotzdem war es, als habe er trotz des Nervenkitzels, den ihm seine Aktionen bescherten, gemerkt, dass Menschen auch verletzt werden konnten. Aber die Schwärze hatte sich wie ein Vorhang über ihn gesenkt, als das skrupellose Gespenst Laurent in ihr Leben getreten war.
Marcus hatte geglaubt, dass Byrne mit dem Ende des Krieges und dem Tode Laurents zu seinem alten Ich zurückfinden würde. Stattdessen schien die Kugel, die Marcus seinem Bruder aus dem Bein hatte operieren müssen, mehr zerfetzt zu haben als nur Haut und Knochen. Die Wunde war niemals vollständig verheilt, sodass Byrne ständig unter Schmerzen litt, die er zu lindern versuchte.
Der Tiefpunkt war erreicht, als Marcus seinen Bruder, nachdem er ihn drei Tage lang gesucht hatte, am Südufer der Themse aus einer Opiumhöhle befreit hatte; er hatte kaum noch geatmet und war praktisch auf ein Nichts zusammengeschrumpft.
Drei Wochen lang hatten sie ihn zu Hause behalten, bis Byrne drohte, er würde einen Tobsuchtsanfall bekommen. Daraufhin wurde beschlossen, dass Byrne, der von seiner Großtante Lowe eine Hütte am Lake District geerbt hatte, aufs Land ziehen würde, um sich dort zu erholen. Nur so würde er sich von den Übeln und Abhängigkeiten befreien können, die ihn innerlich verzehrten.
Aber angesichts dessen, dass sein Bruder beinahe bis aufs Skelett abgemagert war, hegte Marcus die Befürchtung, dass die Monate der Einsamkeit seine Dämonen nur noch zahlreicher hatten werden lassen.
»Warum machst du das?« Byrnes Stimme klang brüchig und zornig zugleich. »Warum stocherst du in diesen alten Wunden herum … für eine Frau? Für die blonde Phillippa Benning, die nichts im Kopf hat und nur aus purer Eitelkeit besteht.«
»Du bist aber reichlich unfair gegenüber jemandem, den du noch gar nicht kennengelernt hast. Aber trotzdem«, Marcus wischte die ätzende Erwiderung fort, die er von seinem Bruder erwartete, »die Beweise liegen vor. Fieldstone weigert sich, genau hinzuschauen. Zum Teufel noch mal, alle weigern sich. Nur sie nicht.«
»Sie benutzt dich doch nur. Um ehrlich zu sein, sie benutzt mich, weil sie dich für mich hält. Verdammt noch mal, Marcus«, gellte Byrne, als der Zorn ihn schließlich vollends gepackt hatte, »warum hast du nicht nach mir geschickt? Warum hast du dir alles selbst aufgeladen?«
»Weil es dir nicht gut geht«, behauptete Marcus leise.
»Nein, verdammt, es geht mir nicht gut! Aber du bist am falschen Platz für diese Sache! Es ist nicht deine Aufgabe.«
»Nicht meine Aufgabe?«, explodierte Marcus. Vor Wut stieß er einen kleinen Tisch um. »Dann verrate mir doch, mein lieber Bruder, was hätte ich denn sonst tun sollen? Du warst verletzt – und verloren. Und plötzlich kehrt dieser Mann zurück, dieses Ding, das eigentlich in salziger Erde vergraben sein sollte. Wenn das nicht meine Aufgabe ist, wessen dann? Du kannst sie
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