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Ein Stern fliegt vorbei

Ein Stern fliegt vorbei

Titel: Ein Stern fliegt vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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Taglichtbeleuchtung, bei der verschiedene geographische und kalendarische Beleuchtungsnuancen eingestellt werden konnten. Zwei Kollegen arbeiteten im Hintergrund an einem Bild. Lutz wollte sie nicht stören und sah sich die Bilder an, die an den Wänden befestigt waren, während Sabine in einem großen Stapel herumsuchte.
    Was er da sah, verursachte ihm eine eigenartige Beklemmung. Gerade vor ihm hing ein Landschaftsbild, eine Weide mit Rindern, mit Gebäuden im Mittelgrund und einer Hügelkette in der Ferne. Aber alles, auch die Tiere, schien irgendwie leblos zu sein. Woran lag das? Er trat ein paar Schritte zurück. Die Haltung der Tiere? Nein. Die Gebäude, die Hügel? Nein. An den Einzelheiten lag es nicht. Er schloß die Augen und stellte sich verschiedene Landschaften vor, die er noch vom Hochzeitsurlaub her frisch im Gedächtnis hatte. Dann öffnete er die Augen wieder. Ja, das war es: Die Perspektive stimmte nicht. Und auch die Farben schienen um ein weniges zum Blauen hin verschoben. Nicht, daß der Maler Perspektiv- und Farbverschiebungen bewußt als verfremdendes Kunstmittel eingesetzt hätte – dazu waren sie zu schwach. Sie riefen eben nur diesen toten Eindruck hervor. Und es war ja wohl kaum denkbar, daß dieser Eindruck beabsichtigt gewesen wäre – zumal auch, wie er jetzt sah, die anderen Bilder ähnliche Merkmale zeigten. In der Absicht des Zirkels mußte es doch eher gelegen haben, das Gegenteil hervorzurufen, nämlich freundliche, lebendige Eindrücke der irdischen Natur.
    Sabine Hellrath rief ihn. „Hier ist eins“, sagte sie und stellte ein Bild auf eine Staffelei. „Sehen Sie, diese entsetzlich kitschigen Farben, diese überbetonte Perspektive – die Augen tun einem weh davon. Wie oft haben wir mit ihm diskutiert – er ließ nicht mit sich reden. Schließlich unterblieben die Debatten, weil alle es müde waren, nur die Luft zu erschüttern und er von sich aus auch nicht dazu aufforderte. Ich meine“ – sie nagte einen Augenblick an ihrer Unterlippe –, „wir haben ihn natürlich nicht geschnitten, aber vielleicht hat es so gewirkt?“
    Lutz sagte kein Wort. Er sah vor sich ein Bild, das zwar auch kein Meisterwerk, aber im Gegensatz zu den anderen normal war, in frischen Farben gehalten und mit tiefer Räumlichkeit. Seine Gedanken überstürzten sich. Sie haben alle die Erde ewig nicht mehr gesehen. In ihrem Blickfeld fehlen mittlere Entfernungen ganz und natürliche Lichtverhältnisse fast ganz, die physikalisch exakt zusammengesetzte Taglichtbeleuchtung tut es offenbar nicht. Was ist das für eine Krankheit, die das Erinnerungsvermögen, vor allem das sinnliche, konserviert und abgrenzt gegen die Einflüsse der Umwelt? War er da überhaupt schon krank, oder war die Krankheit, die Lethargie, nur eine Reaktion darauf, daß die anderen sein sensuelles Erinnerungsvermögen zu zerstören drohten? Er wandte sich Sabine Hellrath zu: „Als er das gemalt hat, war er da schon krank?“
    Die Ärztin dachte nach. „Kurz bevor seine Krankheit bekannt wurde, muß das gewesen sein“, antwortete sie. „Was meinen Sie dazu? Sind das nicht krankhafte Anzeichen?“
    „Ich weiß nicht, ich möchte mir kein voreiliges Urteil bilden“, antwortete Lutz ausweichend. „Lassen Sie mir ein bißchen Zeit, meine Eindrücke zu ordnen.“
    „Gut“, sagte Sabine, „dann gehen wir jetzt am besten zurück, nicht?“ Henner Hellrath erwartete sie bereits mit einem verdrossenen Gesicht, das sich nur für kurze Zeit aufhellte, als er Lutz begrüßte, dann aber gleich wieder ärgerlich wurde.
    „Wieder Pfusch“, knurrte er. „Diesmal sogar in der Teilkontrolle. Bringt uns drei Tage Arbeit, den letzten Bauabschnitt der WEGA nochmal zu kontrollieren. Aber diesmal“, fuhr er mit einem nicht sehr freundlichen Seitenblick auf seine Frau fort, „werde ich mir den Verantwortlichen vorknöpfen, und wenn alle Ärzte der Welt behaupten, daß er krank sei. Ein Rückfall in die Vorgeschichte ist das, eine – eine Charakterlosigkeit!“
    Er schimpfte noch eine Weile, und Lutz wurde es schon peinlich, weil er fühlte, daß die Ärztin sich für ihren Mann schämte – obwohl er, Lutz, den Kapitän andererseits wieder verstehen konnte. Er bat deshalb: „Darf ich bei der Aussprache dabeisein?“
    „Ich kann es Ihnen nicht gut verweigern“, brummte Henner, schon etwas freundlicher. „Aber der Mann geht zurück auf die Erde, das steht fest.“
    „Das wird wohl auch nötig sein“, stimmte Lutz zu, „nur…“ Er

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