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Ein Stern fliegt vorbei

Ein Stern fliegt vorbei

Titel: Ein Stern fliegt vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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hatte keine Zeit mehr.“
    Henner Hellrath fühlte Grimm in sich aufsteigen. Er bemühte sich sachlich zu bleiben: „Tatsache ist, daß bisher kein Kind im Weltall geboren wurde. Niemand weiß, ob dabei nicht schädliche Folgen auftreten. Außerdem kann so etwas nur Unruhe und zusätzliche Belastungen in unsere Arbeit bringen. Sie haben leichtfertig gehandelt, leichtfertig!“
    „Es gibt vom ärztlichen Standpunkt aus unter unseren heutigen Raumfahrtbedingungen keinen Grund, schädigende Folgen anzunehmen“, sagte Sabine Hellrath leise, „und außerdem hat sich Yvonne vorher mit mir beraten.“
    Henner sah seine Frau an, sah die anderen an, lief rot an, wurde dann blaß, wollte etwas sagen, sagte aber doch nichts.
    Sabine erriet seine Gedanken. „Ärztliche Schweigepflicht“, sagte sie. „Die Patientin wünschte nicht, daß ich über ihre Absicht spreche.“
    „Ich wünsche übrigens auch nicht, daß der Rat diese Frage weiter behandelt“, erklärte Yvonne nun.
    Henner Hellrath sah sich mit großen Augen um. In keinem Gesicht las er Unterstützung. Er begriff das nicht. Er war viel zu ehrlich, um sich nicht einzugestehen, daß er wohl unrecht haben müsse, wenn alle außer ihm anderer Meinung waren. Aber er verstand nicht wieso. Obwohl nie Prinzipienreiter, war er doch stets ein Mann von unerschütterlichen Grundsätzen gewesen, und die scheinbare Leichtigkeit, mit der hier ein jahrhundertelang eingehaltener Grundsatz für ungültig erklärt wurde, war ihm unfaßbar. Natürlich, ungewöhnliche Bedingungen wie die der Expedition rechtfertigen ungewöhnliches Vorgehen, aber es muß doch einen Sinn haben! Der Sinn für diesen Sinn fehlte ihm. Henner war verwirrt. Er fügte sich.
    „Gehen wir nun also zum nächsten Punkt über…“
    Lutz sah Yvonne mit einem triumphierenden Blick an. Yvonne lächelte zurück, aber nicht mit dem gleichen Ausdruck, sondern liebevoll und warm und auf irgendeine Art weise.
    Wenige Tage später bewies die Anzeige ihres zu erwartenden Familienglücks, die Yvonne und Lutz über das Fernsehen ergehen ließen, um es nicht zum Gegenstand von Gerüchten werden zu lassen, daß fast alle Expeditionsteilnehmer das als freudiges Ereignis auffaßten. Die beiden wurden so mit Glückwünschen überschüttet, als wäre das Kind schon geboren.
    Henner Hellrath blieb mehrere Tage sehr nachdenklich und verschlossen. Dann überwand er seine Niederlage und freute sich mit den anderen. Aber eine kleine Spur von Unsicherheit blieb in ihm zurück.
     
    Zu Beginn des Jahres 80 – fast vier Jahre nach dem Start der Expedition und nun schon sieben Jahre nach Empfang der kosmischen Botschaft – kam der Tag, an dem die Beobachtung des Feldes abgeschlossen war und die mathematische Maschinerie der Expedition zum erstenmal zeigen durfte und sollte, was sie wirklich konnte.
    Genaugenommen waren es allerdings drei Tage, die die zum erstenmal zu einem System geschaltete Rechentechnik brauchte, um die gesammelten Informationen über das Feld zu einem mathematischen Modell zu verarbeiten.
    Es ist merkwürdig, daß die meisten Menschen, Mathematiker vielleicht ausgenommen, noch immer einen Hauch von Mystik, von Zauberei und Weissagung verspüren, wenn sie ein mathematisches Modell in Funktion erleben. Vielleicht hat das folgenden Grund: Man sagt ja nicht zu Unrecht, die Maschinen der materiellen Produktion seien die Verlängerungen des menschlichen Arms, während die Rechenmaschinen – nun ja, nicht die Verlängerungen, aber doch die Potenzierung des menschlichen Gehirns darstellen. Die Tätigkeit der Arme und Hände sieht jeder Mensch jeden Tag, aber noch niemand hat ein menschliches Gehirn in Funktion gesehen. Man stellt einem Menschen eine Frage, und er antwortet. Und wenn man diese Frage nicht selbst beantworten könnte, fühlt man Hochachtung gegenüber dem Antwortenden. Nun, man stellt einem mathematischen Modell eine Frage, die kein Mensch auf der ganzen Welt beantworten könnte – und es antwortet. Was aber soll man gegenüber einer Abstraktion empfinden?
    Man weiß natürlich im Prinzip, wie die Rechentechnik funktioniert, aber ein bißchen von diesem sonderbaren Eindruck empfindet jeder, der ihr gegenübersteht.
    Henner und Lutz ging es jedenfalls so, als sie im Rechenzentrum saßen, und selbst Yvonne, die zu diesem Anlaß „Gewand angelegt“ hatte, und so geschmackvoll und geschickt, daß ihr nun schon gerundeter Leib nicht etwa weggezaubert, sondern wie selbstverständlich in das Gesamtbild

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