Ein Stern fliegt vorbei
sich gegenseitig kontrollieren. Die Sicherheit der Expedition rechtfertigt die härtesten Maßnahmen.“
Henners Ausdrucksweise zeigte, daß er mit Widerstand rechnete. Und dieser Widerstand kam auch.
„Es ist eine Krankheit“, sagte Sabine.
„Gibt es dafür Beweise?“ fragte Kapitän Morrell von der ATAIR.
„Es gibt keine feststellbaren gemeinsamen Krankheitsmerkmale bei den in Frage Kommenden, wenigstens bis jetzt nicht, wenn Sie das meinen“, antwortete Sabine. „Aber das will bei einer neu auftretenden Krankheit, noch dazu im Anfangsstadium, nichts besagen. Fest steht für mich, daß eine bewußte Unterlassung des Auswechselns mit nachfolgender Eintragung in die Kontrolliste, eine Fälschung also, nicht in Frage kommt. Dazu weiß jeder viel zu gut, was von der Kontrolle abhängt – mal ganz abgesehen von der moralischen Seite der Sache. Diese Vorgänge sind nur so zu erklären, daß die Betreffenden im Augenblick der Eintragung überzeugt waren, die kontrollierte Baugruppe wirklich ausgewechselt zu haben. Damit aber handelt es sich um Bewußtseinsstörungen, und ihr gleichzeitiges und mehrfaches Auftreten beweist, daß es nicht um einen veranlagten psychischen Defekt eines einzelnen geht, sondern um eine aus der Situation entstandene allgemeine psychische Erkrankung.“
„Ich fasse zusammen“, sagte Henner verbissen. „Beweise gibt es keine.“
„Ich dächte, das ist nicht ganz von der Hand zu weisen“, meldete sich Kapitän Schtscherbin von der WEGA.
„Studieren wir das Material noch einmal“, vermittelte Lutz.
Die anderen stimmten zu, indem sie die Mappen aufschlugen, worin die Ergebnisse der Kontrollen zusammengefaßt waren.
Lutz nahm sich die Namen der Schuldigen vor. Seine Augen blieben an einem Namen hängen: Kathleen Potter. Ach, Kat, dachte er, wie kommt dein Name auf diese Liste? Du – energisch, jung, verliebt noch dazu. Und warum ist sie in der Kabine geblieben beim Alarm? Hat sie etwa die verliebte Köchin gespielt, die die Suppe versalzt? Unsinn! Verliebt sind auch andere – Ljuba, Miguel, na und ich natürlich… Er blickte zu Yvonne hinüber und sah, daß sie etwas auf einen Zettel schrieb. Dann schob sie ihm das Stück Papier zu.
„Kann Raumkoller als Modell dienen? Ich weiß zuwenig darüber“, stand darauf. Raumkoller? Nein, der war ja das ganze Gegenteil gewesen, früher, als man ihn noch nicht zu verhindern verstand. Und doch, wenn man die Sache nicht vom Medizinischen her betrachtete, sondern von der gesellschaftlichen Seite, als Störung im normalen Gang der Dinge? Plötzlich hatte er einen der Momente, die jeder Raumfahrer kennt, in denen es einem fast körperlich spürbar bewußt wird, daß einen wenige Meter von der schwarzen Leere des Alls trennen und daß die Erde ein unendlich ferner Stern ist, und er wußte nun auch, daß es um ganz etwas anderes ging als darum, wer hier recht hatte, und er wußte, was er als Gesellschaftswissenschaftler zu sagen hatte.
Er räusperte sich. Die anderen blickten auf. „Können wir?“ fragte er. Alle nickten, einige zögernd. Lutz sah Henner ins Gesicht und erkannte, daß der Kommandant nicht nachgedacht, sondern sich hinter seinen Ansichten und Argumenten verschanzt hatte.
„Der Kommandant stellt die Sache so hin“, begann Lutz, „als seien es die Vertreter der Krankheitshypothese, die sich die Sache leicht machen. In Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt. Krankheit oder nicht – wir müssen uns darüber klarwerden, was von beiden Möglichkeiten die größere Gefahr darstellt, und gegen die größere Gefahr müssen wir uns wappnen. Handelt es sich nicht um eine Krankheit, dann können wir die Lage sicherlich normalisieren mit den Maßnahmen, die der Kommandant vorschlägt“ – er sagte bewußt vorschlägt, und er spürte sofort, daß Henner die korrigierende Absicht erkannt hatte –, „handelt es sich aber um eine Krankheit, müssen wir auf viel Schlimmeres gefaßt sein. Erinnern wir uns: Als in der Geschichte der Raumfahrt der Raumkoller zum erstenmal auftrat, stieg der Krankenstand auf einzelnen Schiffen bis zu 50 Prozent an. Unsere Krankheit hier – wenn es eine ist – ist in ihrer Art hundertmal gefährlicher, weil sie vorläufig nur an ihren sachlichen Folgen zu erkennen ist, die wir ja aber gerade verhindern müssen. Unter diesen Gesichtspunkten müssen wir unsere Maßregeln treffen.“
Henner wollte protestieren, auf seinem Standpunkt beharren, aber die sachliche Diskussion dessen, was notwendig geworden
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